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Klaus Müller
Das Prinzip Hoffnung in der Pflege

Das menschliche Leben ist davon gekennzeichnet, dass wir uns ab ungefähr dem 4. Lebensjahr Zukunft vorstellen können. Menschen entwickeln eine mehr oder weniger konkrete Vorstellung darüber, dass und wie ihr Leben weitergehen wird bzw. soll. Dies können zum einen greifbare Ziele sein, die formuliert werden. Zum anderen ist mit der Wahrnehmung von Zukunft auch die Kraft der Lebensenergie, der Motivation und der Hoffnung, dass sich alles fügen und weitergehen wird, verbunden. Kranke Menschen können sich so vorstellen, wieder gesund zu werden, oder mit Einschränkungen weiterleben zu können.

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Der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) prägte mit dem Titel seines Grundlagenwerkes Das Prinzip Hoffnung eine bis heute gängige Redewendung, die zur Anwendung kommt, wenn eine Situation schwer lösbar oder ausweglos erscheint: „Hier hilft nur noch das Prinzip Hoffnung!“, also das Vertrauen darauf, dass sich das Problem oder die Situation positiv auflösen wird, was in dem Moment selbst unwahrscheinlich erscheint. Bloch selbst hat sich im Angesicht des Zweiten Weltkriegs in seinem Exil eher weniger mit individuellen Fragestellungen, sondern vielmehr mit gesellschaftlichen Entwicklungsfragen in der Nachkriegszeit auseinandergesetzt. Ihm ging es um die Frage einer gesellschaftlichen Utopie eines besseren und gerechteren Lebens für alle Menschen, um eine Grundhaltung, auf Verbesserung hinzuarbeiten. Bloch geht davon aus, das Hoffen erlernbar ist und damit das Muster der Problemlösung verändert werden kann (Ranis 2024). Im übertragenen Sinn gilt es für erkrankte Menschen also darum, eine Utopie von Heilung bzw. einem gelingenden Leben mit Krankheit zu entwickeln, eine Grundhaltung die später auch als Positives Denken propagiert wurde (Peale 2003).

Wenn Menschen die Diagnose einer schweren Erkrankung erhalten, die chronisch verlaufen wird und sogar lebensverkürzend sein kann, ist diese Nachricht zunächst unfassbar und stürzt die Betroffenen in eine Krise. Sie reagieren zunächst mit Leugnung, Wut-, Schuld- und Ohnmachtsgefühlen, welche in einen Bewältigungsprozess eingebunden sind, der am Ende bestenfalls in eine Akzeptanz der Gegebenheiten und ein Weiterleben mit Krankheit mündet. Aus Sinn- und Perspektivlosigkeit im Hier und Jetzt werden Hoffnung und Zuversicht auf eine schaffbare und in Grenzen lebenswerte Zukunft.

Hoffnung repräsentiert hier ein positives, konstruktives Gefühl, welches den Menschen zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der zu bewältigenden Herausforderung motiviert. Das Erleben von Hoffnung verändert dabei sowohl das Mindset, also die Denkweise, als auch die grundlegende emotionale Befindlichkeit (Rustøen 2021). Hoffnung stärkt den Glauben daran, die Herausforderungen der kommenden Zeit bewältigen zu können. Darüber hinaus ermöglicht der Austausch mit anderen Menschen, Lösungsideen und neue Perspektiven aus sich selbst heraus zu finden (Eisold et al 2009).

In der ersten Zeit nach Eintritt einer Krankheit bzw. der Diagnosemitteilung sind Pflegefachpersonen durch ihre patientennahe Tätigkeit direkte Begleiter*innen und Kommunikationspartner*innen für die erkrankten Menschen im Rahmen einer professionellen Pflegebeziehung (Fastner 2021). Pflegefachleute nehmen Stimmungen unmittelbar wahr, können diese ansprechen und einer Reflexion zugänglich machen. Damit stärken sie die Selbstwahrnehmung des erkrankten Menschen in seinem Wechselbad der Gefühle und können die Krankheitsverarbeitung unterstützen. Darüber hinaus sind Menschen in Krisen oft zurückgezogen und wenig artikulationsfähig. Sie benötigen Menschen, die das Aktuelle aussprechen und sich für die Belange des Betroffenen einsetzen. „Der Mensch, der Pflege braucht, ist in verschiedener Weise abhängig davon „erhört“ und „verstanden“ zu werden, um seinen Bedürfnissen entsprechend versorgt, gepflegt und behandelt werden zu können.“ (Schröck 1998).

Der Songtext „You will never walk alone” bringt zum Ausdruck, was in krankheitsbezogenen Krisen die Aufgabe von Pflegefachpersonen ist: an der Seite der erkrankten Menschen und deren Zugehörigen stehen, sie begleiten, und durch Dasein und Aushalten der Situation erlebbar machen, dass diese schwierige Zeit im Leben nicht allein durchlebt und bewältigt werden muss. Pflegefachpersonen sind verlässliche Beziehungspartner*innen in dieser Zeit. In seiner Aussage „Es ist die Beziehung, die heilt.“, stellt Yalom (2010, 464ff) die besondere Bedeutung des aufeinander bezogen Seins für Menschen und ihren Heilungsprozess heraus. Zentraler Einflussfaktor der Wahrnehmung als ganzheitliches Selbst scheint dabei die Resonanz der anderen Person zu sein, wie Buber (1999) es beschreibt. Mit seiner Formulierung „der Mensch wird an Du zum Ich“ drückt er aus, dass jeder Mensch den Kontakt und die Reaktion von anderen Menschen auf die eigene Person benötigt, um sich seiner selbst gewahr zu werden und eine positive Lebensenergie aufbauen zu können. Eine Pflegebeziehung auf Augenhöhe bietet hier den Rahmen, um „auf professionelle Art Freunde zu werden“ und so dem erkrankten Mensch Beistand zu leisten (Müller 2024). Im gemeinsamen Tragen der Situation kann Hoffnung entstehen als Utopie, dass Heilung und/oder ein Weiterleben möglich ist.

Bislang sieht die Realität im Pflegeberuf allerdings anders aus. Auch wenn in der Theorie Einigkeit darüber herrscht, dass eine Beziehung zum zu pflegenden Menschen immer die Voraussetzung für eine Pflegehandlung ist, sieht die Arbeitsablauforganisation dafür keine Ressourcen vor. Pflegebeziehungen werden nebenbei aufgebaut und gepflegt. In der theoretischen Ausbildung nehmen die Themen Kommunikation und Interaktion dankenswerterweise inzwischen zwar mehr Raum ein. Inwieweit dies auch am Lernort Praxis der Fall ist, bleibt offen. Viele Pflegefachleute fühlen sich in Bezug auf professionelle Pflegebeziehungen und Krisenbegleitung eher überfordert und treten zurückhaltend auf. Gröning (2001, 9) hat formuliert, dass Pflege eine „Vermeidungsbeziehung“ ist und viele Pflegefachleute eher eine professionelle Distanz als eine professionelle Nähe aufbauen, um sich vor einer Vereinnahmung durch den erkrankten Menschen zu schützen. Beziehung wird oft hinter die zu erledigenden Aufgaben gestellt und entsteht, weil eine pflegerische Verrichtung oder Aufgabe am Menschen durchgeführt werden muss. Nicht die Beziehung wird gepflegt, sondern es wird Blutdruck gemessen, oder es werden Medikamente verteilt, und dabei finden dann auch Kontakt und Beziehung statt.

Will Pflege die erkrankten Menschen und deren soziale Bezugspersonen im Leben mit Krankheit unterstützen und befähigen, gilt es, die Pflegebeziehung zukünftig (wieder) in den Vordergrund zu stellen und nicht hinter Verrichtungen zu verstecken. Umfassende professionelle menschliche Sorge im Sinne von Caring unterstützt Menschen dabei, in einer krankheitsbezogenen Krise die innere Lähmung zu überwinden und Hoffnung darauf zu entwickeln, dass eine Besserung und Stabilisierung möglich ist (Müller 2018). Hoffnung stärkt dann die Motivation und das Engagement aktiv an der Krankheitsbewältigung zu arbeiten. Die Pflegequalität kann demnach immer nur so gut sein, wie es die Beziehungsqualität ist.

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Literatur

Buber, M. (1999). Ich und Du. 19. Aufl. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus

Eisold, A., Schulz, M., Bredthauer, D. (2009). Hoffnung als Pflegephänomen im Rahmen psychiatrischer Pflege. Ein systematischer Literaturüberblick. Zeitschrift für Pflegewissenschaft und psychische Gesundheit, 3, 1, 12–28.

Fastner, M. (2021). Krisenintervention im pflegerischen Setting. Praxisbuch zur psychosozialen Krisenbegleitung für Pflegefachpersonen und Gesundheitsberufe. Bern: Hogrefe.

Gröning, K. (2001). Entweihung und Scham. Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Mabuse.

Müller, K. (2018). Berufsverständnis. Was ist Pflege? In: Büker, C., Lademann, J., Müller, K. Moderne Pflege heute. Stuttgart: Kohlhammer. 81-102.

Peale, N. V. (2003). Die Kraft des positiven Denkens. 10. überarb. Auflage. Zürich: Oesch

Ranis, H. (2024). Leichter leben mit Philosophie. Frankfurt am Main, Quell Verlag, 69-70.

Rustøen, T. (2021). Hope: A Health Promotion Resource. In: Haugan, G., Eriksson, M. Health Promotion in Health Care – Vital Theories and Research. Berlin, Heidelberg: Springer, 61-70.

Schröck, R. (1998). Geleitwort. In: Backs, S; Lenz, R. (Hrsg.). Kommunikation und Pflege. Eine Untersuchung von Aufnahmegesprächen in der Pflegepraxis. Wiesbaden: Ullstein Medical.

Yalom, I. D. (2010). Existenzielle Psychotherapie. 5. korr. Auflage. Bergisch Gladbach: EHP-Verlag.

Zur Person

Prof. Dr. Klaus Müller,

ist Krankenpfleger, Berufspädagoge und Gesundheitswissenschaftler. Er ist Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences mit dem Lehrgebiet „Pädagogische Aufgaben in der Pflege“. Er lehrt in den Themenfelder Kommunikation, Beratung, Interaktion und Palliative Care und ist Ethikberater im Gesundheitswesen sowie Hospiz- und Trauerbegleiter.

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