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Madeleine Auer
„Schwester, i mog’ nimmer“
Therapieverweigerung auf der Intensivstation

Auf einer Intensivstation treffen medizinischer Fortschritt, technisches Know-How und menschliche Grenzsituationen täglich aufeinander. Entscheidungen über Lebenserhaltung, Therapiemaßnahmen oder Abbruch medizinischer Interventionen gehören dort zum Alltag. Was jedoch passiert, wenn Patient*innen plötzlich sagen, dass sie nicht mehr weiterbehandelt werden möchten, stellt viele Teams vor große ethische und rechtliche Herausforderungen.

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„Schwester, i mog’ nimmer.“, ist ein Satz, der mit wenigen Worten etwas sehr Großes ausdrückt: Nämlich dass der Kampf, die Schmerzen, die Angst – aufhören dürfen. Dieser Satz, oft leise gesprochen, manchmal kaum hörbar, kann in einem Raum voller Technik, Maschinen und medizinischem Eifer plötzlich alles zum Stillstand bringen. Und er kann Fragen aufwerfen, die keine einfache Antwort kennen.

Auf einer Intensivstation dreht sich vieles um Entscheidungen. Um Lebenserhaltung. Um das Abwägen zwischen Risiko und Nutzen. Um die Frage: Was ist denn noch überhaupt machbar und was ist noch sinnvoll? Wenn Menschen in diesem Umfeld plötzlich sagen, dass sie nicht mehr behandelt werden möchten, dann gerät diese Logik ins Wanken. Denn das, was im Klinikalltag häufig das Ziel ist – Stabilisierung, Heilung, Lebensverlängerung – steht plötzlich im Widerspruch zu dem, was die betroffene Person empfindet. Was sie will. Oder eben nicht mehr will.

Was genau passiert in solchen Momenten? Wer darf „Nein“ sagen? Und wird dieses Nein gehört und respektiert? Oder wird dieses Nein vielleicht sogar still übergangen?

Die wenigsten Patient*innen, die auf eine Intensivstation kommen, haben eine rechtsverbindliche Patient*innenverfügung errichtet. Statistisch gesehen sind es etwa 4 % der österreichischen Bevölkerung. Und von diesen wiederum sind nur rund ein Drittel so konkret formuliert, dass sie im Ernstfall tatsächlich bindend sind (Körtner et al., 2014). Das bedeutet: In der großen Mehrheit der Fälle gibt es keine klare schriftliche Grundlage, auf die sich das Behandlungsteam stützen könnte. Was bleibt, ist der unmittelbare Eindruck. Die Kommunikation im Hier und Jetzt. Oder im schlimmsten Fall die Vermutung und somit der mutmaßliche Patient*innenwille.

Doch auf der Intensivstation ist Kommunikation oft erschwert. Viele Menschen sind nicht bei vollem Bewusstsein. Andere sind sediert, verwirrt oder schlicht zu geschwächt, um sich verständlich auszudrücken. Und dennoch passiert es immer wieder, dass Patient*innen – zwischen Schmerz und Bewusstsein, zwischen Sedierung und Klarheit äußern: „Ich kann nicht mehr.“, „Ich will nicht mehr.“, „Bitte hört auf damit.“

Diese Momente sind heikel, denn sie verlangen vom medizinischen Team, nicht nur den Körper im Blick zu behalten, sondern auch den Willen. Nicht nur medizinisch zu handeln, sondern auch menschlich innezuhalten. Und das fällt schwer – in einem System, das auf Aktivität ausgerichtet ist, auf Maßnahmen, auf Therapien. Auf Tun.

Die rechtlichen Grundlagen sehen dabei klarere Regeln vor: Eine medizinische Behandlung darf nur dann durchgeführt werden, wenn die betroffene Person ihr zustimmt (Riedler, 2018). Diese Zustimmung oder Einwilligung muss freiwillig sein, sie muss informiert sein, und darf nicht unter Druck, Täuschung oder in einem Zustand eingeschränkter Urteilsfähigkeit erfolgen (Kienapfel, Höpfel, Kert. 2020). Ist eine Einwilligung nicht möglich, etwa wegen Bewusstlosigkeit oder kognitiver Einschränkungen, muss entweder eine Vertretungsperson (beispielsweise durch eine Vorsorgevollmacht) entscheiden oder es wird versucht, den sogenannten mutmaßlichen Willen zu ermitteln. Doch dieser Weg ist unsicher. Er erfordert Einfühlungsvermögen, Sorgfalt und oft eine ethische Abwägung. Das ist keine leichte Aufgabe, schon gar nicht in einem hektischen klinischen Alltag. Vor allem möchte man herausfinden, was denn der tatsächliche Wille der betroffenen Person ist, man fragt sich, was die Person in dieser konkreten Situation gewollt hätte?

Hinzu kommt, dass es rechtlich gesehen nicht nur um Zustimmung, sondern auch um Ablehnung geht. Wer entscheiden kann, eine Behandlung zuzulassen, darf sie auch ablehnen. Selbst dann, wenn diese Behandlung das Leben verlängern oder sogar retten könnte. Umgekehrt, dass eine Behandlungsverweigerung in letzter Konsequenz natürlich auch den Tod bedeuten kann . Das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen endet nicht an der Tür der Intensivstation.

Doch genau hier beginnt der Alltag der Grauzonen. In vielen Situationen wird die Einwilligungsfähigkeit angezweifelt – etwa, weil eine Person sediert ist. Diese Zweifel führen dann nicht selten dazu, dass der geäußerte Wille ignoriert oder relativiert wird. In der Praxis heißt das: Eine Patientin sagt, sie möchte nicht mehr behandelt werden. Die Antwort ist: „Wir warten ab, bis sie wieder klarer ist.“ Und in dieser Zwischenzeit wird weiter behandelt. Intubiert, operiert, beatmet. Mit dem Ziel, das Leben zu retten – aber vielleicht gegen den Willen der betroffenen Person.

Oft bleibt ein Zwang dabei unsichtbar. Anders als in der Psychiatrie, wo Zwangsmaßnahmen gesetzlich streng geregelt, dokumentiert und überwacht werden müssen, ist der somatische Bereich – also die klassische Intensivmedizin – oft weniger klar strukturiert. Angewendeter Zwang würde sich hier leise äußern. Durch das Ignorieren von Äußerungen. Durch gutgemeinte Überzeugungsversuche. Durch das Hinauszögern von Gesprächen. Oder schlicht durch Unterlassung – nämlich dann, wenn niemand fragt.

Zwang kann viele Gesichter haben. Offener Zwang ist zum Beispiel eine Maßnahme gegen den ausgesprochenen Willen. Informeller Zwang ist etwas subtiler: Wenn Patient*innen das Gefühl haben, sie dürfen nicht ablehnen. Wenn ihnen Schuldgefühle vermittelt werden, etwa durch Sätze wie: „Ihre Familie gibt die Hoffnung nicht auf.“ Oder wenn sie das Gefühl bekommen, die Behandlung sei alternativlos, obwohl sie es nicht ist (Jöbges, 2022).

In all diesen Situationen spielt die Pflege eine zentrale Rolle. Pflegepersonen sind oft die ersten, die mitbekommen, dass ein Mensch nicht mehr will. Sie sind nah dran – körperlich, emotional, kommunikativ. Sie hören die leisen Signale. Sie sehen den Rückzug. Sie spüren die Erschöpfung. Doch was dürfen sie mit diesen Wahrnehmungen tun?

Das österreichische Gesundheits- und Krankenpflegegesetz verpflichtet Pflegepersonen zur Mitwirkung an ethischen Entscheidungsprozessen (GuKG, BGBl. I Nr. 108/2023).

Was heißt das aber nun konkret? Wie sieht „Mitwirkung“ aus, wenn die Entscheidung über eine Behandlung letztlich ärztlich getroffen wird? Wie viel Raum bleibt, wenn die Pflege zwar Verantwortung trägt, aber kein echtes Mitspracherecht hat?

Was in der Theorie als multiprofessionelle Zusammenarbeit gedacht ist, zeigt sich in der Praxis oft als Hierarchie. Und in dieser Hierarchie sind es häufig die Stimmen der Pflege, die zuerst gehört – und zuletzt ernst genommen werden. Pflegepersonen berichten davon, wie sie immer wieder auf Widersprüche hinweisen, auf den geäußerten Patientenwillen, auf ethische Bedenken – und dennoch erleben, dass weiterbehandelt wird. Dass ihre Beobachtungen als „subjektiv“ abgetan werden. Dass ihre Rolle im Entscheidungsprozess unklar bleibt.

Das hat Folgen. Nicht nur für die Patientinnen, muss – oder dabei zusehen muss, wie gegen sie gehandelt wird. Pflegepersonen erleben, sondern auch für die Pflegekräfte selbst. Der Begriff „moralischer Distress“ beschreibt ein tiefgreifendes Gefühl von Belastung, das entsteht, wenn man gegen die eigenen ethischen Überzeugungen handeln, diesen Distress, wenn sie Behandlungen mittragen müssen, die sie als sinnlos oder schädlich empfinden. Wenn sie das Gefühl haben, ihre Nähe zu den Patientinnen zählt weniger als die Vorgabe einer ärztlichen Entscheidung. Wenn sie spüren, dass es nicht mehr um das Wohl des Einzelnen geht – sondern um Systemlogik (Henrich et al., 2016).

Dieser moralische Distress ist nicht nur ein individuelles Phänomen. Er ist ein strukturelles Problem. Er entsteht überall dort, wo ethische Fragen keinen Raum haben. Wo Zeit fehlt, um zu reden. Wo Kommunikation oberflächlich bleibt. Wo Entscheidungen allein auf medizinischen Parametern basieren, aber das Menschliche, das Individuelle, das Subjektive – ausgeblendet wird.

Dabei gäbe es Wege, diesen Raum zu schaffen. Ethische Fallbesprechungen, interdisziplinäre Runden, regelmäßige Supervisionen, klare Dokumentationen von geäußerten Willensbekundungen und freilich auch rechtliche Schulungen. Aber all das braucht Zeit, Bereitschaft und eine Kultur, in der die Frage „Was will der Mensch?“ gleichwertig behandelt wird mit der Frage „Was können wir medizinisch tun?“.

Wenn jemand ernsthaft sagt: „Ich will nicht mehr“, dann ist das keine Kapitulation. Es ist ein selbstbestimmter Akt. Eine Haltung. Eine letzte Entscheidung, die respektiert werden muss – auch wenn sie schwer auszuhalten ist. Vielleicht besonders zu diesem Zeitpunkt. Denn loslassen können ist oft schwerer als festhalten. Es braucht Mut und Vertrauen in die Würde des anderen.

Und genau deshalb ist es wichtig, dass wir nicht nur in rechtlichen Kategorien denken. Nicht nur in Diagnosen, Scores und Leitlinien. Sondern in Menschen. In Biografien. In inneren Haltungen. Und dass wir die Pflege nicht nur als helfende Hand sehen – sondern als ethisches Gegenüber. Als Stimme, die mitsprechen darf, wenn es um Leben und Tod geht.

„Schwester, i mog’ nimmer.“ Das ist ein Satz, der nicht ignoriert werden darf. Er ist vielleicht die letzte Möglichkeit eines Menschen, sich mitzuteilen. Sich abzugrenzen. Sich zu verabschieden. Und wenn wir in diesem Moment die Augen schließen, die Ohren verschließen, das System über den Willen stellen, dann verfehlen wir nicht nur den Menschen. Dann verfehlen wir unser Ziel: zu helfen.

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Literatur

Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, BGBl. I Nr. 108/2023

Jöbges et al. (2022). What does coercion in intensive care mean for patients and their

relatives? A thematic qualitative study. Universität Zürich, Zürich, Schweiz: BMC

Medical Ethics, doi: https://doi.org/10.1186/s12910-022-00748-1. S. 1ff.

Henrich et al. (2016). Causes of moral distress in the intensive care unit: A qualitative study*. Vancouver, Canada: Elsevier Inc., doi: http://dx.doi.org/10.1016/j.jcrc.2016.04.033, 57-62.

Kienapfel, Höpfel, Kert. (2020). Strafrecht. Allgemeiner Teil. Linz: Manz Verlag Wien.Kurzlehrbuch. 16. Auflage., S. 105

Körtner et al. (2014). Rechtliche Rahmenbedingungen und Erfahrungen bei der Umsetzung von Patientenverfügungen, Folgeprojekt zur Evalurierung des Patientenverfügungsgesetzes (PatVG). Wien: IERIM.

Riedler.(2018). Zivilrecht I, Allgemeiner Teil, 7. Auflage. Linz: MANZ-Verlag. S. 92

Zur Person

Madeleine Auer,

ist akademische Expertin für Intensivpflege, Notfallsanitäterin und Studentin der Rechtswissenschaften an der Johannes-Kepler-Universität Linz.

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