Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie machen alle Beteiligten betroffen – Patient:innen, Angehörige und auch Fachpersonen. Mittlerweile ist ausreichend bekannt, dass Zwangsmaßnahmen auf die betroffene Person traumatisierende Auswirkungen haben, eine physische Herausforderung darstellen und zu einem Vertrauensverlust gegenüber dem Personal und der Institutionen führen können. Gerade für solch extreme Ausnahmesituation mangelt es in der psychiatrischen Praxis leider weiterhin an einer professionellen Begleit- und Nachsorge. Auch Fachpersonen und Angehörige können in unterschiedlichen Ausmaßen unter den Auswirkungen der Zwangsausübung leiden, doch kommt diese Betroffenheit in der Aus- und Weiterbildung insgesamt zu kurz.
Um diese Lücken zu schließen, hat NAGS Austria für seine Deeskalationstrainer:innen in Wien einen zweitägigen Workshop organisiert, welcher eine umfassende Auseinandersetzung mit dem gesamten Zwangskontext ermöglichte. Die Durchführung erfolgte vom Schweizer Verein zwang[los] unter der Leitung von Helene Brändli und Sebastian Rüegg (www.zwang-los.com). Helene Brändli ist eine Erfahrungsexpertin, welche seit ihrem 12ten Lebensjahr langjährig in Kontakt mit der Psychiatrie stand und dabei immer wieder mit Zwang und Gewalt konfrontiert war. Nun gibt sie ihre Expertise als EX-IN Genesungsbegleiterin im psychosozialen Bereich weiter. Sebastian Rüegg ist Pflegefachmann, Berufsschullehrer für psychiatrische Pflege und Trainer in Aggressions- und Deeskalationsmanagement. Mit Diskussionen, Gruppenarbeiten, Rollenspielen und Reflexionsrunden wurde lernpädagogisch wirkungsstark ein aufschlussreicher Wissenstransfer ermöglicht.
„Diese Fortbildung ist „DAS“ fehlende Puzzlestück für alle psychiatrisch Tätigen. Selbstreflexion – über den Tellerrand blicken und das Hinterfragen der eigenen humanistischen Grundhaltung im Umgang mit Zwangskontexten wird hier bearbeitet und geschärft. Absolut empfehlenswert und wichtig!“
Stefan Weißensteiner (NAGS Deeskalationstrainer)
Einleitend wurde mit den Teilnehmer:innen der persönliche und institutionelle Umgang mit Zwangsmaßnahmen reflektiert. Dabei stellte sich heraus, dass der Umgang von Station zu Station verschieden ist und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen maßgeblich von der Teamzusammensetzung abhängig ist. Es gibt Personal, welches sehr bemüht ist, deeskalierend einzuwirken, um Zwangsmaßnahmen bestmöglich zu vermeiden, und es gibt Teammitglieder, die Regelverstöße umgehend ahnden und schnell dazu neigen Zwang anzuwenden. Dadurch kommt es zu Situationen, wo Teammitglieder an Zwangsmaßnahmen mitwirken müssen, obwohl sie das Gefühl haben, die Situation hätte anders gelöst werden können. Insbesondere Pflegfachpersonen fühlen sich dabei aufgrund der hierarchischen Strukturen ohnmächtig und vulnerabel gegenüber der Zwangsanwendung. Folglich betonten die Teilnehmer:innen die Bedeutung der Enttabuisierung und eines transparenten Umgangs mit Zwangskontexten.Viel Raum wurde damit auch der eigenen Betroffenheit als zwang-ausübende Fachperson geschenkt. Die wesentlichen Komponenten, die es in der psychosozialen Versorgung zu etablieren gilt, ist die Reflexion von Zwang innerhalb des Teams als auch die Nachbesprechung mit den betroffenen Personen.
„Für mich war die Fortbildung sehr bereichernd. Insbesondere die Betroffenenperspektive öffnete mir die Augen. Für mich bedeutet dies innerhalb meines Wirkungskreises zu vermitteln, wie wichtig ein wertschätzender Umgang auch in Ausnahmesituationen ist und dass man seine Worte mit Bedacht wählen sollte..“
Valerie Binder (NAGS Deeskalationstrainerin)
Ein zentraler Aspekt, der während des Workshops erarbeitet und eingeübt wurde, ist die Strukturierung und professionelle Moderation von Nachbesprechungen mit Betroffenen anhand eines Praxisleitfadens. Solch eine Nachbesprechung erfordert geschultes Personal, da die Moderation erlernt und auch die Rolle der teilnehmenden Fachperson reflektiert werden muss. Das Angebot einer Nachbesprechung hat zeitnah nach einer Zwangsmaßnahme zu erfolgen und soll bei Ablehnung regelmäßig wiederholt werden, bei Bedarf auch über den stationären Aufenthalt hinaus. An der Nachbesprechung nehmen die betroffene Person und ein Teammitglied, welches an der Zwangsmaßnahme aktiv beteiligt war, teil. Moderiert wird die Nachbesprechung durch eine neutrale Person aus dem Behandlungsteam, die nicht an der Zwangsmaßnahme mitgewirkt hat. Wenn die betroffene Person wünscht, kann zusätzlich eine Vertrauensperson hinzugezogen werden. Die Nachbesprechung soll in einem neutralen Setting und angenehmer Gesprächsatmosphäre stattfinden. Der oder die Moderator:in achtet darauf, dass alle Anwesenden ihre Perspektive zur Zwangsmaßnahme schildern können, dabei dürfen auch Gefühle und Emotionen benannt werden. Im nächsten Schritt werden alternative Vorgehensweisen zur Zwangsmaßnahme besprochen und welche Bedürfnisse die betroffene Person während und nach der Zwangsmaßnahme gehabt hätte. Die Nachbesprechung soll die Gründe der Anwendung verständlich aufarbeiten und ein gegenseitiges Verständnis ermöglichen. Das Teammitglied, welches an der Zwangsmaßnahme beteiligt war, soll dabei mit Ich-Botschaften kommunizieren. Darüber hinaus wird festgestellt, was alle Beteiligten nun benötigen, um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit wieder herzustellen, und wie eine zukünftige Zusammenarbeit ohne Zwangsmaßnahmen auskommt. Diesbezüglich wurde die schweizerische psychiatrische Patientenverfügung vorgestellt. Diese Patientenverfügung könnte als Vorbild für Österreich dienen, da im neuen österreichischen Unterbringungsgesetz ein Behandlungsplan verankert ist, in welchem Absprachen zu Medikamenten, Deeskalationsstrategien zur Zwangsreduktion sowie Kontaktwünsche dokumentiert werden sollen.
Sorgfältige Nachbesprechungen ermöglichen Betroffenen und Fachpersonen gleichermassen, ihre Erlebnisse und Bedürfnisse zu teilen sowie Fragen und Missverständnisse aufzuklären. Dies trägt zur Enttabuisierung der ethischen Dilemmata bei, die Zwangsmaßnahmen auslösen, und fördert die Suche nach Strategien, um solche Maßnahmen in Zukunft zu vermeiden. Gleichzeitig bieten Nachbesprechungen dem Personal die Chance, die eigene Praxis und Haltung gegenüber Zwangspraktiken zu reflektieren, was ebenfalls zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen beitragen kann.
Der Workshop von zwang[los] erwies sich als äußerst bereichernd. Die Deeskalationstrainer:innen von NAGS Austria sind nun bestens gerüstet, um ihr neu erworbenes Wissen an die österreichische Psychiatrie weiterzugeben und damit einen positiven Wandel in der Praxis herbeizuführen. Dieses Fortbildungsangebot markiert einen bedeutenden Schritt hin zu einer umfassenderen und humaneren Betreuung von Menschen in psychischen Notlagen und verdeutlicht die Relevanz einer reflektierten Herangehensweise im Umgang mit Zwangsmaßnahmen.
„Zur Fortbildung möchte ich sagen, dass es ausgezeichnet gelungen ist, dieses komplexe Thema kreativ zu bearbeiten. Es lädt zum Nach- und Umdenken ein. Für mich ein Lerngewinn auf allen Ebenen.“
Nicole Paulus (NAGS Deeskalationstrainerin)
diplomierter psychiatrischer Gesundheits- & Krankenpfleger, Doktorand der Pflegewissenschaft Universität Wien, Mitglied bei EViPRG und FOSTREN, Vorstandsmitglied Transparente Psychiatrie, Gastdozent und Keynotespeaker
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