Aggression und Gewalt gegenüber Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen sind europaweit ein ernstzunehmendes Phänomen. Doch gemeinsame und wirksame Lösungen bleiben bisher die Ausnahme. Unterschiedliche nationale Ansätze, rechtliche Rahmenbedingungen und politische Prioritäten erschweren einheitliche Maßnahmen. Die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens C.190 bietet nun die Chance, diesem Thema koordiniert, rechtlich verankert und europaweit abgestimmt zu begegnen.
Das Gesundheits- und Sozialwesen in Europa steht seit Jahren unter Druck: steigende Patientenzahlen, wachsende Versorgungsaufgaben, knappe personelle Ressourcen und zunehmende Arbeitsbelastungen. Als Vertreter der younion_die Daseinsgewerkschaft nehme ich regelmäßig an Sitzungen in der EPSU (European Public Service Union) für den „Health and Social Services“ Sektor teil. Dort diskutieren Gewerkschaftsvertreter:innen der teilnehmenden Mitgliedsstaaten über diese Herausforderungen und erarbeiten mögliche Lösungsansätzen. Dabei zeigt sich: Probleme sind komplex und ein europäischer Konsens nur schwer zu erreichen – selbst wenn, scheitert die Umsetzung oft an der nationalen Ebene. Empfehlungen werden teilweise nicht angenommen und es bedarf oftmals einer gesetzlichen Regelung für eine nachhaltige Umsetzung.
Ein Beispiel ist der chronische Personalmangel, der seit der Pandemie noch verschärft wurde. Ursachen sind Arbeitsbedingungen, Entlohnung, Ausbildungsfragen und Personalschlüssel. Aber auch ein Wertewandel in der jungen heranwachsenden Gesellschaft ist bemerkbar, z.B. vielseitige Interessen, geringere Wochenarbeitszeit.
Innerhalb Österreichs verfolgen die Bundesländer unterschiedliche Ansätze – wie zum Beispiel bei der Frage des Personaleinsatzes, des Professionenmixes und der Personalentwicklung. Die Initiative „Offensive Gesundheit“, eine Plattform der für Spitäler und Pflegeeinrichtungen zuständigen Fachgewerkschaften, dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, der Arbeiterkammer und der Wiener Ärztekammer, versuchte vergeblich, bei den politischen Verantwortlichen unter anderem einen gesetzlich festgelegten Personalschlüssel und Professionenmix nach einem „best practice“ Modell zu erzielen („Roadmap Gesundheit 2020‘: Leitfaden für Einen verbindlichen Strukturdialog für das Österreichische Gesundheits- und Pflegesystem“, 2020).
Daran lässt sich nachvollziehen, wie schwierig es ist, eine gemeinschaftlich erarbeitete Position unter Zustimmung der Mitgliedsländer (im Vergleich zur Europäische-Union der Bundesländer) und der Arbeiterverbände zu erarbeiten.
Neben strukturellen Problemen steht Europa auch vor der Frage, wie mit Aggression und Gewalt im Gesundheits- und Sozialwesen generell umzugehen ist. Ein wichtiger Schritt ist das ILO-Übereinkommen C.190, das Österreich im September 2024 ratifizierte und welches mit 11. September 2025 in Kraft tritt (RIS – Übereinkommen (Nr. 190) über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt Art. 4 – Bundesrecht konsolidiert, o. D.). Es soll allen Beschäftigten ein Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung garantieren und fordert einen integrierten, geschlechtsorientierten Ansatz zur Prävention. Dazu gehören gesetzliche Verbote, umfassende Strategien, Schulungen, Sanktionen und starke Kontrollmechanismen.
Auf die Dimension der Phänomene und Aggression im Gesundheits- und Sozialbereich soll hier nicht explizit eingegangen werden. Nur so viel: In zwei umfassenden Erhebungen in den Jahren 2019 und 2023 wurde in der Unternehmung des Wiener Gesundheitsverbundes in Kooperation mit der Fachhochschule Bern Sabine Hahn und Dirk Richter festgestellt, dass die Prävalenzzahlen zu Aggression und Gewalt im Gesundheitsbereich im internationalen Vergleich beinahe ident sind. Auch bei den Ursachen für diese Phänomene ist man sich zumindest offiziell einig: In unserem Berufsfeld haben wir es mit Menschen in emotionalen Ausnahmesituationen zu tun. Es geht um Orientierung im Bereich der eigenen Gesundheit oder die eines uns nahestehenden Menschen. Angst, Orientierungslosigkeit, Schmerz, kognitive Beeinträchtigungen sind maßgeblich beeinflussende Faktoren, welche oftmals außer Acht gelassen werden.
In der öffentlichen Diskussion werden mitunter vorgefertigte Meinungen verfestigt und einer breiten Öffentlichkeit dargestellt. Dazu tragen auch Medien bei, die versuchen, die Ursachen für Aggression und Gewalt unter anderem in der Herkunft der Patient*innen zu finden. Angedeutet wird ein Zusammenhang von steigenden Aggressions- und Gewaltzahlen im Gesundheitsbereich und Migrationshintergrund.
Es liegen keine seriösen Studien vor, die einerseits Fragestellungen in diese Richtung beinhalten bzw. noch diese Annahmen bestätigen.
In solchen Beiträgen werden auch die unterschiedlichen Herangehensweisen der Institutionen und Bundesländer ersichtlich. Ebenso uneinheitlich stellt sich dies auch auf europäischer Ebene dar. Gefordert sind laut ILO umfassende Strategien, umgesetzt werden derzeit nur Teilbereiche. Einzelne Bereiche setzen auf Sicherheitspersonal, doch bereits bei der Frage der äußeren Erscheinung dieser und deren Auftretens scheiden sich die Geister. Was die einen als Schutz empfinden, weckt in den anderen erst recht Aggression. Wenn dem Anschein nach „schwer bewaffnete“ Securitymitarbeiter mit martialischem Auftreten (schwarz gehaltener Kleidung, gut bestücktem „Kampfgürtel“ wie Pfefferspray, Schlagstock etc.) eingesetzt werden, entsteht oftmals auch das Gefühl von Unsicherheit.
Neue Diskussionen löste 2025 das Klinikum Dortmund aus: dort sollen Bodycams eingesetzt werden. Arbeitsdirektor Michael Kötzing erklärte, allein der Hinweis „Sie werden jetzt aufgenommen“ solle deeskalierend wirken (Hohnstein, 2025).
In Italien forderte hingegen die Präsidentin des Pflegepersonal-Verbandes, Barbara Mangiacavalli, nach einem Vorfall, bei dem 50 Angehörige nach dem Tod einer jungen Frau das Spital stürmten und Mitarbeiter*innen attackierten, die Präsenz des Militärs und der Polizei in den Spitälern. Aktuell ist eine Verschärfung des Strafrechts geplant, mit dem Ziel: Gewalt gegen Gesundheitspersonal wird härter bestraft (Redazione, 2024).
Die Haltung der Institutionen zu den Phänomenen ist nicht immer ersichtlich – die Spannweite reicht von transparent bis hin zu gar nicht oder nur rudimentär vorhanden. Auch wann und wie Verhaltensregeln kommuniziert werden, bleibt oft unklar. In Frankreich werden Patient*innen und Angehörige bereits bei der Aufnahme über Verhaltensregeln informiert – ein Ansatz, der Gewaltprävention mit Transparenz und Kommunikation verknüpft.
Während sich die einen mit deeskalierender Architektur beschäftigen, überlegen andere wiederum den Einsatz von Metalldetektoren im Eingangsbereich von Gesundheitseinrichtungen. Offene Bauweise versus abgeriegelter Sicherheitsbereich.
Die so wichtigen Deeskalationsschulungen unterscheiden sich ebenfalls stark. Während im Wiener Gesundheitsverbund Kommunikation im Vordergrund steht („kommunikationsgestützte Körperintervention“), setzen andere Einrichtungen auf Selbstverteidigung mit Schlägen und Tritten – ebenfalls ein sehr fragwürdiger Ansatz in Gesundheitseinrichtungen.
Pionierarbeit leisten hier die Vereine NAGS Austria, Schweiz und Deutschland, die aktuell eine Leitlinie für die Planung, Durchführung und Auswertung von Trainings im Aggressions-, Deeskalations- und Sicherheitsmanagement im Gesundheits- und Sozialwesen erarbeitet haben. Die Leitlinie bietet sowohl den Auftrag gebenden Institutionen als auch den Trainer*innen eine fachliche und ethische Orientierung für Trainings im Aggressions-, Deeskalations- und Sicherheitsmanagement. So sind auch Empfehlungen für Maßnahmen und Inhalte umfasst, welche vor, während und nach Trainings berücksichtigt werden sollen. Mitarbeitende sollen auf Krisensituationen vorbereitet werden, um Eskalationen präventiv zu vermeiden, Zwangsmaßnahmen sollen vermieden bzw. auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Damit soll auch die Qualität der Trainings sichergestellt und der Wildwuchs an unterschiedlichen Anbietern und Zugängen eingedämmt werden – mit dem klaren Ziel, mehr Sicherheit für alle Beteiligten zu erreichen und Arbeitsbedingungen langfristig zu verbessern.
Es gilt also diese Chance mit dem Inkrafttreten der ILO C.190 zu nutzen und für den Gesundheits- und Sozialbereich gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Sich auf allen Ebenen und letztendlich auch auf europäischer Ebene auszutauschen und auch rechtlich zu verankern. Das Rezept liegt wie immer in der Kooperation, im Zusammenschluss und einer fachlich aber menschlich getragenen Diskussion.
Hohnstein, A. (2025). Klinikum Dortmund: Mit Technik die Eskalationsspirale durchbrechen. Kma – Klinik Management Aktuell, 30(05), 27–29. https://doi.org/10.1055/a-2654-3191
Redazione. (2024, 27. September). Angriffe auf Ärzte, Entwurf eines Gesetzesdekrets: eklatante Festnahme und fünf Jahre Haft. L’Unione Sarda German. https://www.unionesarda.it/de/italien/angriffe-auf-arzte-entwurf-eines-gesetzesdekrets-eklatante-festnahme-und-funf-jahre-haft-dmpsrs4c
RIS – Übereinkommen (Nr. 190) über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt Art. 4 – Bundesrecht konsolidiert. (o. D.). https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/iii/2024/156/A4/NOR40265730?Abfrage=Bundesnormen
„Roadmap Gesundheit 2020“: Leitfaden für einen verbindlichen Strukturdialog für das österreichische Gesundheits- und Pflegesystem. (2020). In Offensive Gesundheit. https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.oegb.at/content/dam/oegb/downloads/brosch%25C3%25BCren/Offensive_Gesundheit_ROADMAP_Gesundheit_2020_final,0.pdf&ved=2ahUKEwjQ_5ze56WPAxVu-gIHHYUDOhsQFnoECAcQAQ&usg=AOvVaw3NK1FFLwrUvZhOWnJXHi2W
Edgar Martin, MBA
ist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger und hauptberuflich Vorsitzender der Personal- und Gewerkschaftsvertretung Hauptgruppe 2 für 30.000 Bedienstete in Wien. Außerdem ist er Mitglied des Aufsichtsgremiums des Wiener Gesundheitsverbundes und Trainer bei Verein NAGS Austria.
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