Mit ihrer Kampagne „24 Stunden unverzichtbar. Faire Arbeit für Betreuer*innen“ setzt sich Amnesty International Österreich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von 24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich ein. Ihre Situation steht exemplarisch für die Auswirkungen prekärer Arbeit auf die Menschen und ihre Rechte: Geringe Bezahlung, übermäßig lange Arbeitszeiten, unzureichende soziale Absicherung und fehlende Kontroll- und Unterstützungsmöglichkeiten kennzeichnen diese Form von Arbeit; Faktoren, die durch die COVID-19-Pandemie noch verschärft wurden.
Gerade beim Thema Langzeitpflege und dem Altern in einem menschenwürdigen Umfeld ist der Mangel an Pflegefachkräften und Betreuer*innen eine große Herausforderung – und dies, obwohl die Nachfrage immer weiter steigt (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD, 2020). So wird im Jahr 2040 mehr als ein Viertel der österreichischen Bevölkerung älter als 65 Jahre sein (Statistik Austria, 2020). Doch immer weniger Menschen entscheiden sich für einen solchen Beruf oder verbleiben kürzer darin (OECD, 2020).
In Österreich ermöglichen Gesundheitsfachkräfte, Familienmitglieder aber auch mehr als 60.000 24-Stunden-Betreuer*innen die Pflege und Betreuung von älteren Menschen zu Hause; eine wesentliche Säule unserer Gesellschaft. Doch diese wesentliche Arbeit, die hauptsächlich von Frauen geleistet wird, ist von schlechten Arbeitsbedingungen, mangelhafter Entlohnung und fehlender Wertschätzung gekennzeichnet.
24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich arbeiten häufig unter unfairen, unsicheren und prekären Bedingungen, da bei ihnen – da sie offiziell selbstständig gemeldet sind – der Arbeitnehmer*innen-Schutz für Mindestlohn, Ruhe- und Höchstarbeitszeiten, Urlaub und Krankenstand nicht greift.
Das hat Auswirkungen auf ihre Menschenrechte, allen voran das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, einschließlich angemessenem Lohn (1), und das Recht auf soziale Sicherheit (2); Menschenrechte, zu denen sich Österreich durch die Ratifizierung relevanter völkerrechtlicher Verträge verpflichtet hat (3). Diese Rechte sind wesentlich, damit Menschen sich und ihren Familien ein menschenwürdiges Leben ermöglichen können; sie sind auch Voraussetzung für die Verwirklichung weiterer Rechte. Doch prekäre Arbeitsbedingungen gefährden diese Rechte zunehmend; mit der Folge, dass diese Rechte durch “Null-Stunden-Verträge”, befristete Verträge und niedrige Löhne weiter unter Druck kommen.
Amnesty International Österreich hat in ihrem Bericht die Situation von 24-Stunden-Betreuer*innen näher untersucht (Amnesty International, 2021). Dabei wurde klar, dass neue Formen von prekärer Arbeit in der Langzeitpflege weit verbreitet sind: So auch in Österreich und im Bereich der Betreuung zu Hause, wo mehr als 90% der Betreuer*innen selbstständig gemeldet sind (4). Doch oft sind die Betreuer*innen de facto gar nicht selbstständig, da ihnen die dafür notwendige Autonomie fehlt. Denn die Betreuer*innen können oft weder ihr Honorar noch ihre Arbeitszeiten selbst bestimmen – beides jedoch wesentliche Voraussetzungen für eine rechtliche Selbstständigkeit. Oft haben sie einen Vertrag mit der zu betreuenden Person, oder deren Familien, und mit einer Agentur, der eine Vermittlungsrolle zwischen den Betreuer*innen und den Menschen, die Unterstützung benötigen, zukommt. Darüber hinaus verweisen Agenturen bereits auf ihren Webseiten häufig auf die Arbeiten, die Betreuer*innen ausführen und die entsprechenden Kosten.
Hierbei handelt es sich um sogenannte „verschleierte Arbeitsverhältnisse“ (ILO 2020) oder „Schein-Selbstständigkeit“. Die Folge ist, dass die Betreuer*innen oft unter dem Mindestlohn bezahlt werden und nicht durch die gesetzlichen Vorgaben und Schutzbestimmungen zu Ruhe- und Höchstarbeitszeitengrenzen geschützt sind. Auch beim Zugang zu sozialen Leistungen, wie Krankengeld oder Arbeitslosenunterstützung, stehen selbstständige Betreuer*innen vor Hürden und haben, wie alle Selbstständigen, erst ab dem 42. aufeinanderfolgenden Tag der Krankheit Anspruch auf Krankengeld. Dasselbe gilt auch für die Inanspruchnahme von Arbeitslosenunterstützung, die nicht von der Mindestbeitragsgrundlage, die selbstständige Betreuer*innen an die Sozialversicherung leisten, umfasst ist. Da flächendeckende Kontroll- und Unterstützungsmöglichkeiten fehlen, werden die Arbeitsbedingungen der Betreuer*innen und die Qualität in der Betreuung auch kaum überprüft.
Die prekäre Situation von vielen Betreuer*innen und die viel zu niedrige Bezahlung ergibt sich auch aus einem strukturellen Problem: Die Betreuung älterer Menschen ist eine Arbeit, die überwiegend von Frauen und meistens Migrantinnen ausgeübt wird. In Österreich sind 92% der Betreuer*innen Frauen und mehr als 98% Migrant*innen, in erster Linie aus mittel- und osteuropäischen Ländern, wie Rumänien und der Slowakei (Amnesty International, 2021). Frauen, die in diesem Bereich tätig sind, werden als „Pendelmigrantinnen“ bezeichnet, da sie gewöhnlich für kürzere Perioden nach Österreich einreisen, um sich hier um ältere Menschen zu kümmern, und dann eine Zeitlang wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Für sie als Arbeitsmigrantinnen ist die Kluft noch größer, wie auch internationale Fachausschüsse regelmäßig betonen (5). Denn in Österreich verdienen Frauen schon grundsätzlich weniger als Männer (Gender Pay Gap von über 19%) (EUROSTAT, 2019); und laut ILO verdienen Arbeitsmigrant*innen um 25% weniger als Staatsbürger*innen; und Migrantinnen erhalten sogar 26,8% weniger Lohn als Österreicherinnen (ILO, 2020).
Da viele Betreuer*innen Arbeitsmigrantinnen sind, sind sie somit doppelt gefährdet für prekäre Arbeitsbedingungen: Nämlich aufgrund ihres Geschlechts und ihrer nicht-österreichischen Staatsbürgerschaft. Das bedeutet für sie nicht nur geringere Bezahlung, einen schlechten arbeitsrechtlichen Schutz und wenig soziale Sicherheit, sondern auch häufige Fälle von Diskriminierung und zum Teil sexueller Belästigung, wie der Amnesty-Bericht zeigt (Amnesty International, 2021).
In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, dass Österreich regelmäßig von UN-Fachausschüssen aufgefordert wird, die Einkommenskluft zwischen Frauen und Männern zu schließen (6). Österreich hat auch die menschenrechtliche Verpflichtung, Diskriminierung, Gewalt und Belästigung gegen Frauen – auch am Arbeitsplatz – zu verhindern und Zugang zu angemessenen Rechtsbehelfen zu garantieren (7).
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie, die Ausgangspunkt der Amnesty-Recherchen war, verdeutlichten sich die bestehenden menschenrechtlichen Problemfelder. Aufgrund der Reisebeschränkungen konnten viele Betreuer*innen zu den üblichen Turnussen nicht nach Hause fahren und arbeiteten mehrere Wochen durch. Sie berichteten von einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen, von erhöhtem Stress und Angst. Gleichzeitig waren aufgrund der COVID-19-Maßnahmen auch die Möglichkeiten von Familien und Freund*innen der zu betreuenden Menschen stark eingeschränkt, sodass die Betreuer*innen oft wochenlang die einzige Bezugsperson waren. Auch beim Zugang zu den COVID-19-Unterstützungsmaßnahmen hatten die Betreuer*innen mit teils unüberwindbaren bürokratischen Hürden zu kämpfen; und in einigen Fällen haben es die österreichischen Behörden verabsäumt, allen Betreuer*innen gleichermaßen Zugang dazu sicherzustellen, so auch beim sogenannten „Bleib-Da-Bonus“. In einigen Bundesländern konnten Betreuer*innen diesen nicht selbst beantragen, sondern waren auf die Unterstützung der Familien oder der Vermittlungsagenturen angewiesen.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die sogenannten „verschleierten Arbeitsverhältnisse“ dazu führen, dass den fälschlicherweise als selbstständig eingestuften Betreuer*innen ihre Rechte auf angemessene Arbeitsbedingungen, einschließlich angemessenem Lohn und soziale Sicherheit, noch weiter verwehrt werden und sie doppelt verlieren: Sie genießen weder die Vorteile der Selbständigkeit noch den Schutz von Arbeitnehmer*innen.
Eine Verbesserung des strukturellen Rahmenwerks ist daher dringend erforderlich. Es ist die menschenrechtliche Verpflichtung Österreichs und der zuständigen Entscheidungsträger*innen, sicherzustellen, dass Menschen in einem menschenwürdigen Umfeld betreut und gleichzeitig die Menschenrechte der Betreuer*innen ausreichend geschützt werden. Dafür müssen auch Kontroll- und Unterstützungsmechanismen ausgebaut und gestärkt werden. Vor allem müssen in diesen Reformprozessen die Betreuer*innen gehört und effektiv konsultiert werden.
Der Bericht von Amnesty International ist Teil der Kampagne für die Rechte von 24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich. Die Organisation ruft Menschen auf, sich solidarisch mit den Betreuer*innen zu zeigen und lädt die Entscheidungsträger*innen ein, in einen Dialog zu treten, um gemeinsam und mit Initiativen, wie der IG24 und CuraFAIR, Lösungen zu entwickeln. Von den zuständigen Ministerien fordert die Menschenrechtsorganisation ein rechtliches Rahmenwerk, das sicherstellt, dass die Rechte aller Betreuer*innen, egal ob selbstständig oder unselbstständig tätig, geschützt sind. Dazu gehören, neben fairer Bezahlung und geregelten Arbeitszeiten, auch Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten sowie ausreichend Unterstützungs- und Beratungsangebote.
Amnesty International (2021). „Wir wollen nur ein paar Rechte!“ 24-Stunden-Betreuer*innen werden ihre Rechte in Österreich verwehrt. Abgerufen am 02.09.2021 von https://cdn.amnesty.at/media/8593/amnesty-bericht_wir-wollen-nur-ein-paar-rechte-24h-betreuung-oesterreich_juli-2021_deutsch.pdf?mode=pad&format=webp&quality=90&rnd=132713298120000000
EUROSTAT. (2019). The gender pay gap in the EU. Abgerufen am 02.09.2021 von https://ec.europa.eu/info/policies/justice-and-fundamental-rights/gender-equality/equal-pay/gender-pay-gap-situation-eu_en
International Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO). Empfehlung Nr. 198. Abgerufen am 02.09.2021 von https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_norm/—normes/documents/normativeinstrument/wcms_r198_de.htm
ILO. (2020). Migrant pay gap: understanding wage differences between migrants and nationals. Abgerufen am 02.09.2021 von https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_protect/—protrav/—migrant/documents/publication/wcms_763803.pdf
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). (2020). Who Cares?, Kapitel 2: „Addressing the Shortfall of Workers”. Abgerufen am 02.09.2021, von www.oecd-ilibrary.org/sites/92c0ef68-en/1/3/2/index.html?itemId=/content/publication/92c0ef68-en&_csp_=50980b2bb9059e51e350f213ee338dac&itemIGO=oecd&itemContentType=book.
Statistik Austria. (2020). Demographische Prognosen. Abgerufen am 02.09.2021. von
www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/demographische_prognosen/067546.html
Teresa Hatzl
ist Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich. Der Bericht „Wir wollen nur ein paar Rechte!“ 24-Stunden-Betreuer*innen werden ihre Rechte in Österreich verwehrt basiert auf Recherchearbeiten, die zwischen November 2020 und Mai 2021 durchgeführt wurden, und Sekundärforschung zu europaweiten Trends und menschenrechtlichen Fragestellungen zu den Arbeitsbedingungen von 24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich umfasst. Es wurden Interviews mit Personen geführt, die über direkte Erfahrungen in der Betreuungsarbeit oder eine Expertise oder Rolle im Bereich der Pflege und Personenbetreuung in Österreich haben. Informationen zur Kampagne unter amnesty.at/24h-unverzichtbar
Kontakt: Amnesty International Österreich
Lerchenfelder Gürtel 43/4/3, 1160 Wien
office@amnesty.at
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