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Claudia Binder & Gabriela Hackl
Pflege und Ethik Hand in Hand
– vor, während und nach der Krise

Insbesondere im Langzeitbereich erleben Pflegepersonen des Öfteren ethische Dilemmata. Professionelle Pflege kann nur dann gewährleistet werden, wenn ethisches Handeln nicht nur als Aufgabe der einzelnen Pflegeperson oder des Pflegeteams gesehen wird, sondern auch als Verantwortung von der jeweiligen Organisation wahrgenommen wird. Im folgenden Artikel werden Strukturen und Instrumente der Organisationsethik am Beispiel der Caritas Pflege Wien vorgestellt.

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Fallbeispiel

Die Corona-Pandemie stellt uns alle vor neue Herausforderungen, die nicht nur gesundheitlicher Natur sind, sondern vermehrt ethische Fragen aufwerfen, was sich vor allem im Langzeitbereich zeigt. So kam es in einem Pflegewohnhaus im Jänner 2021, trotz strengster Einhaltung der hygienischen Maßnahmen und der Sorgfalt aller Mitarbeiter*innen, zum Ausbruch der Variante B1.1.7. Schlussendlich war ein Drittel der Bewohner*innen und ein Viertel der Mitarbeiter*innen erkrankt.

Die Belastungen für alle Mitarbeiter*innen waren enorm, nicht nur aufgrund der Mehrarbeit oder der Angst vor Selbstansteckung, sondern auch wegen der erhöhten Sterbezahl bei den Bewohner*innen. Das Gefühl, nicht genug tun zu können und eine zu gering erlebte Unterstützung von externen Stellen, wie Ärzt*innen und Krankenhäusern, verstärkten diese Belastungen.
Das bereits seit einigen Jahren in der Caritas etablierte Ethikteam erhob im Zuge dessen im Gespräch mit Vertreter*innen aus dem Pflegewohnhaus und externen Beteiligten, die Problematiken, die in der Situation gefundenen Lösungen sowie weitere Verbesserungsmöglichkeiten.

Beispiele für Lösungen in der Situation waren die Unterstützung durch erfahrene Mitarbeiter*innen aus einem anderen Haus und die gute Kommunikation mit Angehörigen und den Medien. Vorschläge für Verbesserungsmöglichkeiten fanden sich in der frühzeitigen Unterstützung für alle Beteiligten durch Psycholog*innen, Reduktion der Betten pro Zimmer und der systematischen Führung von Vorsorgegesprächen (Corona Protokoll Ethik-Team Pflege 15.03.2021)

Ethik plus Pflege ist gleich Organisationsethik

In der Pflege stehen wir nicht nur in Pandemiezeiten vor ethischen Dilemmata. Meist haben sie, wie auch das Fallbespiel zeigt, sowohl individuelle als auch strukturelle Aspekte.
Lösungsstrategien bedürfen daher der Zusammenarbeit aller Beteiligten, wobei die jeweilige Organisation für die Bereitstellung von entsprechenden Strukturen (wer, wann, wo) und Instrumenten (womit) sorgt. Neben den unterschiedlichen moralischen Positionen der Praxis und der Philosophie des Unternehmens sollen auch konkrete Fragen über die Betreuung der Bewohner*innen einer ethischen Reflexion unterzogen werden (Heller und Krobath, 2012, S.19).

Heller und Krobath (2012, S. 433) nennen diese Strukturen „ethische Arrangements“, die als „Orte der Differenz“, den Alltag unterbrechen sollen. Organisationsethik entlastet Einzelne in widersprüchlichen Situationen, trägt zur Demokratisierung und Humanisierung arbeitsspezifischer Kontexte bei, im Sinne von Unterstützung, Entlastung und gemeinsamem Aushandeln (ebd., S. 19).

Ethischer Entscheidungsfindungsprozess

Am Anfang steht ein ethisches Dilemma, also eine Situation, in welcher gegen eine oder mehrere Prinzipien des ethischen Handelns, wiwe Respekt vor der Selbstbestimmung, Wohltun, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit (Beauchamp und Childress, 2009) verstoßen wird und es keine „gute Lösung“ gibt. Dies wird in den meisten Fällen durch eine*n Mitarbeiter*in, welche*r Bewohner*innen betreut, bei der vorgesetzten Führungskraft aufgezeigt. Die Unterscheidung zwischen ethischen, strukturellen oder anderen Problemen kann in vielen Fällen nicht trennscharf getroffen werden, der Prozess ist jedoch stets derselbe, wie folgende zeigt:

Wichtig für eine gute Entscheidung ist die Involvierung aller unmittelbar Beteiligten und, wenn möglich, des*der Bewohner*in und deren Angehörige*r, und die/der zuständige Ärzt*in.
Bei Bedarf begleitet die nächsthöhere Leitung, z.B. Pflegedienstleitung, die ebenfalls im Prozess ausgebildet ist und passende Instrumente anwendet.

Instrumente in der Caritas sind beispielsweise die Bewohner*innenbesprechung (Fallbesprechung), ethische Richt- und Leitlinien sowie das Lebensqualitätsaudit. Das Ethik Komitee, das Ethik Team und das Ethik Café bieten den Raum für Lösungsfindungen bei ethischen Fragestellungen. Die Entscheidungen orientieren sich an den Prinzipien des ethischen Handels, ausgerichtet an den Domänen des Lebensqualitätskonzepts der Caritas (vgl. Caritas Pflege Ethik Team, S. 4ff).

Das Ethik Team

2014 wurde von der Caritas Wien aus Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Disziplinen und Hierachieebenen ein Ethik Team geschaffen, um Fragen mit hoher ethischer Komplexität auch im Bereich Pflege zu thematisieren und um das „Wissen hierzu bewusst weiterzuentwickeln, zu vernetzen, zu dokumentieren und weiterzugeben“ (Caritas der Erzdiözese Wien, 2014, S. 1). Es werden Empfehlungen und Entwürfe zu Richtlinien aus ethischer Gesamtperspektive zu aktuellen Praxisfragen wie Sexualität oder Umgang mit Aggression formuliert. Daraus werden Prozesse zur Unterstützung der Mitarbeiter*innen entwickelt.
Eine zentrale Aufgabe stellt die Schaffung von Strukturen zur Reflexion dar. Neben dem entsprechenden Weiterbildungsprogramm betrifft das auch das Angebot von Orten des Dialogs über ethische Fragen (Caritas der Erzdiözese Wien, 2014, S. 1).

Das Ethik Komitee

Das Ethik Komitee, welches aus Mitgliedern der Leitungsebene und Expert*innen besteht, bietet in Form eines ethischen Konzils in ethischen Krisensituationen beratende Unterstützung für alle Beteiligten. Im Fokus steht immer der konkrete Fall.
Das Ethik Komitee gibt darüber hinaus Empfehlungen und Stellungnahmen heraus, die in ethischen Grenzbereichen die Entscheidungsfindungen erleichtern können (best practice) (Caritas Pflege Ethik Team, S. 6).

Ethik Cafés

Die Ethik Cafés, welche regelmäßig an unterschiedlichen Standorten stattfinden, sollen ein niederschwelliges Angebot zum offenen Austausch über arbeitsalltagsbezogene ethische Fragen bieten. Das Format mit kaffeehausartigem Charakter hat seine Stärken im informellen Setting, das Kreativität und das Miteinander der Teilnehmer*innen fördert und zugleich durch einen strukturierten Rahmen ergebnisorientiert ist (Schiersmann und Thiel, 2010, S. 116f.)
Ethik Cafés befähigen Mitarbeiter*innen zu klaren Analysen, ethisch sensiblen Entscheidungen in schwierigen Situationen, wie eine empirische Studie in einem Schweizer Pflegezentrum zeigte (Maier und Kälin, 2016, S. 1).

Resümee

Um ethisches Handeln in der Pflege zu gewährleisten, ist die Beteiligung möglichst aller Betroffenen, erweitert um Expertise, mit einem Blick aus einer anderen „Flughöhe“ auf die Problemstellung essenziell. Wichtig im Sinne der Organisationsethik ist zudem, mehrere Strukturen zu etablieren, um ethische Fragestellungen auf unterschiedlichen Ebenen bearbeiten zu können. Passende Instrumente zu erstellen, die den Entscheidungsfindungsprozess selbst, aber auch die Arbeit der Mitarbeiter*innen vor Ort im ethischen Handeln unterstützen sollen, bilden die Ergänzung, um die beschriebene „Demokratisierung und Humanisierung“ in der Pflegearbeit sicherzustellen.

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Literatur

Beauchamp, T. L., Childress, J. F. (2009): Principles of Biomedical Ethics. 6th Edition. Oxford, New York, Oxford University Press.

Caritas Ethik Team (2016): Caritas Prozess Ethische Entscheidungsfindung, Internes Dokument

Caritas der Erzdiözese Wien (Hg.) (2014): Ethik Team Betreuen und Pflegen. Grundauftrag. Internes Dokument.

Krobath,T., Heller, A. (2010): Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Lambertus Verlag, Freiburg in Breisgau.

Maier, M., Kälin, S. (2016): Ethik-Cafés in der geriatrischen Langzeitpflege: halten sie, was sie versprechen? In: Ethik in der Medizin. 28. 43-55.

Schiersmann, C., Thiel, H. (Hg) (2014): Organisationsentwicklung. Prinzipien und Strategien von Veränderungsprozessen. Wiesbaden: VS Verlag. 4., akt. Aufl.

Zur Person

Claudia Binder, MSc
Qualitätsmanagerin, DGKP, Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege
Kontakt:
Fachstelle Qualität und Innovation
Caritas der Erzdiözese Wien
Wattgasse 48/2. Stock, 1170 Wien
M: +43676 7359368, E: claudia.binder2@caritas-wien.at

Gabriela Hackl
Diplomierte Gesundheits – und Krankenschwester mit 25 Jahren Erfahrung auf Führungsebene in unterschiedlichsten Organisationen. Leiterin des Bereichs Pflege Niederösterreich Ost der Caritas. Das Engagement gilt den Bewohner*innen der Pflegewohnhäuser, den Kund*innen der mobilen Dienste, und allen Mitarbeiter*innen im Bereich.
Kontakt:
Caritas Pflegewohnhäuser
Niederösterreich Ost
Tel: 01-878 12-340
pflege-noe@caritas-wien.at

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