Der Einzug in eine Pflegeeinrichtung markiert für die Bewohner:innen den Eintritt in eine neue Lebensphase. Ein Schritt, der häufig als keine sinnvolle Alternative zum Wohnen im vertrauten, privaten Umfeld gesehen wird und daher in vielen Fällen möglichst lange hinausgezögert wird.
Der späte Einzug führt dazu, dass die Bewohner:innen von Altenpflegeeinrichtungen zunehmend durch einen hohen Pflegegrad, Multimorbidität, sowie demenzielle Krankheitsbilder gekennzeichnet sind.
In Anbetracht dieser Umstände wächst die Verantwortung, nicht nur eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu bieten, sondern auch die Selbstbestimmung der Bewohner:innen zu gewährleisten.
In besonderer Weise gilt dies für Menschen mit Demenz, da kognitive Defizite dazu verleiten können, anzunehmen dass der Betroffene gar nichts mehr versteht und zur Interaktion unfähig ist.
Wird der Mensch aber nicht nur als denkendes, sondern auch als empfindendes, emotionales und soziales Wesen verstanden, kann sich der Blick leichter auf die jeweils noch vorhandenen Ressourcen richten. Dieser Blickwinkel ist unbedingt erforderlich, um Menschen mit Demenz ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Missverständnisse und Möglichkeiten
Die Selbstbestimmungsfähigkeit eines Menschen unterliegt im Laufe des Lebens natürlichen Veränderungen und ist abhängig von der Entwicklung unserer Selbstständigkeit und Urteilsfähigkeit. Menschen mit Demenz sind damit in besonderer Weise gefährdet, einen schrittweisen Verlust an Selbstbestimmung zu erfahren.
Weniger Selbstbestimmungsfähigkeit bedeutet jedoch nicht, über gar keine entsprechenden Kompetenzen mehr zu verfügen.
Vielmehr ist Selbstbestimmungsfähigkeit aufgaben- und situationsspezifisch und muss daher immer relativ betrachtet werden. (ABA & APA, 2021)
Alleine Aufgrund einer Diagnose auf eine generelle Selbstbestimmungsunfähigkeit zu schließen, ist also grundlegend falsch.
Denn wie selbstbestimmt ein Mensch mit Demenz sein Leben leben kann, ist immer von der adäquaten Unterstützung und Haltung der ihn Betreuenden abhängig und somit ein Zusammenspiel zwischen Person und Umwelt.
Willensbekundungen im Zweifel: Die komplexe Realität der Demenzpflege
In der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz begegnen Pflegekräfte regelmäßig Situationen, in denen sie Entscheidungen im besten Interesse ihrer Klienten treffen müssen. Diese Entscheidungen erfolgen teilweise auch gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um eine absichtsvolle Bevormundung, sondern um das Ergebnis einer komplexen Herausforderung im Umgang mit Personen, die als nicht selbstbestimmungsfähig gelten.
Einer Pflegekraft kann es nicht alleine darum gehen, die situativen Willensäußerungen zu berücksichtigen, ohne mögliche Konsequenzen zu bedenken, die daraus erwachsen könnten.
Dieses Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung tritt besonders dann hervor, wenn voneinander abweichend gedeutete bzw. bewertete Situationen (die der Erlebenswelt des Menschen mit Demenz entsprungenen und die der intersubjektiv geteilten Alltagswelt der Pflegekräfte) miteinander kollidieren. Wenn z.B. die Person mit Demenz etwas zu tun beabsichtigt, das zu „erlauben“/zuzulassen das Pflegepersonal in zumindest moralische Schwierigkeiten bringt, weil es die körperliche Integrität dieser Person gefährden würde (= selbstgefährdendes Verhalten).
Fürsorgliches Handeln, unter Wahrung der Autonomie, ist also gerade dann eine diffizile Aufgabe, wenn Willensbekundungen uneindeutig werden oder – scheinbar – ausbleiben. (Kotsch/Hitzler, 2013)
Die Sprache des Verhaltens – Bedeutung und Verständnis jenseits von Worten
Der demenzielle Prozess bringt es hirnorganisch mit sich, dass die Fähigkeit abnimmt, sensorische, visuelle und verbale Informationen in Verbindung zu bringen und einzuordnen. Vieles scheint dadurch sprunghaft und unkontrolliert und verleitet zur Annahme, dass Menschen mit Demenz nichts mehr verstehen und zu keiner Interaktion fähig sind. (Wunder, 2008)
Jedoch wissen wir heute, dass Betroffene selbst in einem weit fortgeschrittenem Stadium zu individuellem Erleben und sozialer Wahrnehmung fähig sind und persönliche Wünsche haben.
Diese Erkenntnis manifestiert sich in der personzentrierten Pflege und führt folgerichtig dazu, dass der Begriff „herausfordernde Verhaltensweisen“ – als Sammelbegriff für Phänomene wie Agitation, Rastlosigkeit, Aggressivität oder vokale Störungen – sukzessiv durch „hinweisende Verhaltensweisen“ ersetzt wird. Diese Sichtweise betont, dass das Verhalten eine Bedeutung hat, die es zu verstehen gilt, um angemessen reagieren zu können.
Denn neben der Kommunikation von Problemen und Bedürfnissen sind diese Verhaltensweisen häufig auch ein Versuch, die eigene Selbstbestimmung wieder herzustellen. (Haberstroh, Neumeyer & Pantel, 2016)
Von der Theorie zur Praxis – Brücken zur Lebenswelt von Menschen mit Demenz
Um diese „Übersetzungsleistung“ erbringen zu können und Selbstbestimmung herzustellen, ist die Qualität sozialer Beziehungen von entscheidender Bedeutung. Dies erfordert neben einer grundlegenden Empathiefähigkeit ein hohes Maß an Fachkompetenz (etwa im Bereich von Handlungsmethoden – z.B. Biografiearbeit – , häufig vorkommenden Krankheitsbildern und speziellen Kommunikationstechniken).
Eine Möglichkeit, derartige Qualitäten systematisch in der Praxis zu verankern, bietet das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell. Dieses Modell hat das Ziel, sich zunehmend in die Lebenswelt der Bewohner:innen einzufühlen und deren wesentliche Bedürfnisse zu erkennen. Durch strukturierte Methoden in den Bereichen Reflexion, Kommunikation und Dokumentation wird ein umfassendes Bild der Lebensrealität der Bewohner:innen erstellt, basierend auf dem wahrgenommenen Verhalten.
Ein zentrales Element dieses Modells ist die Bewohnerbesprechung. Sie ermöglicht es den Pflege- und Betreuungskräften, ein präzises Verständnis für die individuellen Bedürfnisse und Lebensrealitäten der Bewohner:innen zu entwickeln. Diese Einsichten helfen dabei, wertvolle Kontaktmomente zu identifizieren und gezielte Handlungsempfehlungen für den Umgang mit jedem einzelnen zu formulieren.
Eine andere Herangehensweise bietet das Beobachtungsverfahren Dementia Care Mapping™ (kurz DCM™).
Der Fokus des Verfahrens liegt auf dem Verständnis der Perspektive von Menschen mit Demenz. DCM™ ermöglicht es dem Personal, die Perspektive einer Person mit Demenz einzunehmen.
Mittels einer systematisch und klar reglementierten Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens von Bewohner:innen sowie der Interaktion mit dem Pflegepersonal ist es möglich, neben dem Wohlbefinden auch die Qualität der Pflege abzubilden.
Dies kann Wahrnehmungen des Pflegepersonals absichern, reflektieren bzw. korrigieren. Somit können Ursachenforschung für Fragestellungen betrieben und im Team Lösungsansätze erarbeitet werden.
Mäeutik und Dementia Care Mapping™ sind Beispiele für etablierte Methoden zur praktischen Umsetzung einer personzentrierten Haltung. Entscheidend für den erfolgreichen Einsatz dieser und ähnlicher Modelle bzw. Methoden ist die innere Einstellung, mit der wir Menschen mit Demenz begegnen.
Frei nach Marina Kojer, der Pionierin der Palliativen Geriatrie geht es darum, jeden Menschen ungeachtet seines Alters und seines körperlichen und geistigen Zustands für ein gleichwertiges und gleichwürdiges Du anzusehen, ihm mit Respekt, Wertschätzung und Mitgefühl zu begegnen und ihm Selbstbestimmung zuzusprechen. Ist diese Grundhaltung, gepaart mit hoher fachlicher Kompetenz vorhanden, ergeben sich die nächsten Schritte fast von selbst.
American Bar Association Commission on Law and Aging & American Psychological Association (2021). Assessment of older adults with diminished capacities. https://www.apa.org/pi/aging/resources/guides/diminished-capacity.pdf
Bleck, Christian/Schultz, Laura/Conen, Ina/Frerk, Timm/Henke, Stefanie/Leiber, Simone/Fuchs, Harry (2020): Selbstbestimmt teilhaben in Altenpflegeeinrichtungen. Empirische Analysen zu fördernden und hemmenden Faktoren. Baden: Nomos Verlag
Haberstroh, J., Neumeier, K. & Pantel, J. (2016). Kommunikation bei Demenz: Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende (2. Auflage). Heidelberg: Springer Medizin Verlag
Kojer M. (2021): Alt, krank und verwirrt. Einführung in die Praxis der Palliativen Geriatrie (4. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer Verlag
Kotsch, L. & Hitzler R. (2013), Selbstbestimmung trotz Demenz? Ein Gebot und seine praktische Relevanz im Pflegealltag. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Wunder, M. (2008): Demenz und Selbstbestimmung. In: Ethik in der Medizin, 20 (1): Springer Verlag
DGKP Michael Weber
Demenzexperte, DCM-Advanced-User (FraDomo GmbH)
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