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Claudia Leoni-Scheiber
Langzeitpflege: Jeder tut, was er will - unser Föderalismus mit den "Talkaisern"

Der eine entscheidet, der andere zahlt. So oder so ähnlich wird der Föderalismus in Österreich gelebt. Föderalismus, so nachzulesen in der freien Enzyklopädie Wikipedia (2023), wird dabei als Organisationsprinzip verstanden, bei dem die einzelnen Glieder (Bundesländer) über eine begrenzte Eigenständigkeit und Staatlichkeit verfügen, aber zu einer übergreifenden Gesamtheit zusammengeschlossen sind. Im Gegensatz zu einem zentralistisch organisierten Staat sind im Bundesstaat Österreich Gesetzgebung und Vollziehung auf Bund und Länder aufgeteilt (Parlament Österreich, 2023). So werden auch die Landesgesetze und das Gemeinderecht von den neun Landtagen beschlossen. Handelt es sich tatsächlich um begrenzte Eigenständigkeit oder doch viel mehr um eine umfängliche Eigenmächtigkeit? Kommt diese mehr oder weniger ausgeprägte Fragmentierung des österreichischen Gesundheits- und Sozialsystems in Finanzierung und Strukturen den Bürger*innen zugute? Oder ist der Spielraum der einzelnen Bundesländer/„Talkaiser“ zu groß?

Das brisante Thema Langzeitpflege wird in neun Heimgesetzen geregelt. Der darin nicht enthaltene Personalschlüssel für stationäre Pflegeeinrichtungen liegt aktuell in Handbüchern, Sozialpakten, Erlässen oder internen Richtlinien vor und ist damit, so kritisiert der Rechnungshof Österreich (2020), weder für Bewohner*innen einsichtig noch rechtsverbindlich. Zudem wird die Personalausstattung unterschiedlich bestimmt. Die Bundesländer Wien, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark und Tirol ermitteln diese durch Verhältniszahlen in Abhängigkeit von der Pflegegeldstufe, einer Bed-to-Nurse Ratio – der Anzahl an Bewohner*innen je Vollzeitäquivalent (VZÄ), das der im Stellenplan vorgesehenen Anzahl an Vollzeitkräften entspricht (Simon & Mehmecke, 2017). Deren Summe ergibt die Brutto-Arbeitszeit, ohne geplante und ungeplante Ausfälle wie Urlaub, Krankenstand, Fort- und Weiterbildungszeiten. In den restlichen Bundesländern werden komplexe Formeln oder Mischformen angewendet.

Pflegegeldstufe 1 3 5 7 Letzte Änderung
Kärnten Verhältnis-formel 2,4 2,4 2,4 2017
Oberösterreich 12 4 2 1,5 1996
Salzburg 12 2,25 1,5 1,35 2006
Steiermark 13,2 4,3 2,2 1,6 2017
Tirol 10,52 3,46 1,93 1,93 1998
Wien 20 2 1,5 1 2009

Tabelle 1: Personalschlüssel ausgewählter österreichischer Bundesländer

Exemplarisch werden in der Tabelle 1 die Erkenntnisse des österreichischen Rechnungshofes (2020) zu den Personalschlüsseln anhand der Pflegegeldstufen 1, 3, 5 und 7 für die Bundesländer Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Wien dargestellt. Die Spannweite ist enorm, so wird in Wien eine 100%-Pflegekraft oder ein VZÄ für 20 Bewohner*innen der Pflegegeldstufe 1 zur Verfügung gestellt, während dies in Tirol für durchschnittlich 10,52 Bewohner*innen der Fall ist. Sind in Wien zwei Bewohner*innen der Stufe 3, das entspricht einem durchschnittlichen Pflege- und Betreuungsbedarf von mehr als 120 Stunden pro Monat, pro VZÄ vorgesehen, sind es in der Steiermark mehr als doppelt so viele (4,3). In der Pflegegeldstufe 5 werden in Salzburg und Wien durchschnittlich 1,5 Bewohner*innen, in Kärnten 2,4 pro VZÄ berechnet. Noch drastischer ist der Unterschied in der höchsten Pflegegeldstufe (7). Diese wird gemäß Bundespflegegeldgesetz Personen mit einem durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden zuerkannt, unter der Bedingung dass die vier Extremitäten nicht zielgerichtet bewegt werden können bzw. ein gleichzuachtender Zustand vorliegt. Während in Wien ein VZÄ pro Bewohner*in vorgesehen ist, sind es im Burgenland 2,4 Bewohner*innen – fast zweieinhalb mal so viele. Beachtlich sind auch die Zeitpunkte der letzten Anpassungen, diese erfolgte zuletzt 1996 in Oberösterreich oder zwei Jahre später in Tirol. Die Bewohner*innen der Langzeitpflegeeinrichtungen sind in den letzten fünfundzwanzig Jahren deutlich älter, multimorbider geworden, leiden häufiger an gerontopsychiatrischen Krankheitsbildern und sind oft mit Polypharmazie konfrontiert. Die Komplexität der Pflege hat demnach stark zugenommen, der Pflegebedarf ist deutlich gestiegen.

Ein ähnliches Bild großer Divergenzen zwischen den Bundesländern zeigt sich in der folgenden Darstellung (Tabelle 2). Der Rechnungshof Österreich (2020) hat den Vertreter*innen der Länder Szenarien zur Ermittlung der Mindestpersonalausstattung für Pflege und Betreuung in Langzeiteinrichtungen vorgelegt. Diese Ausstattung für ein Musterheim mit 71 Betten und einer durchschnittlichen Pflegegeldstufe von 4,7 reicht von knapp 22 VZÄ im Burgenland bis mehr als doppelt so vielen, konkret 45,7 in Wien. Teilweise sind hier auch VZÄ für Animation oder Fortbildung enthalten. Der Skill- & Grade-Mix, die Zusammensetzung des Personals, wird völlig unterschiedlich angegeben. Während in Tirol lediglich 14 % diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen vorgesehen sind, sind es im Burgenland 45 %, fast die Hälfte. Der höchste Anteil von in der Regel einjährig ausgebildeten Pflegeassistenzpersonal wurde in Oberösterreich und Kärnten mit knapp 70 % angeführt, der geringste mit 45 % im Burgenland. Heimhilfen verfügen über eine Ausbildung von 200 Einheiten Theorie und 200 Einheiten Praxis. Sie leisten Unterstützung in der Basisversorgung – sofern diese Tätigkeiten nicht überwiegend durchgeführt werden (GuKG § 3a.(4)2.), unter anderem bei der Körperpflege, beim An- und Auskleiden, bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Einnahme und Anwendung von Arzneimitteln. In Vorarlberg wurde deren Einsatz mit 8,8 % angegeben, in Tirol wird mit diesem Berufsbild ein Drittel des gesamten Personals abgedeckt.

% DGKP % P(F)A % HH VZÄ ges.
Burgenland 45 45 10 21,9
Kärnten 19,7 69 10 30,1
Niederösterreich 32,3 51 16,6 34,4
Oberösterreich 20 69,7 9,9 33,3
Salzburg* (24,9) (64,9) (10,3) (39,0)
Steiermark 19,9 59,9 19,9 32,2
Tirol 14 52,3 33,9 32,7
Vorarlberg 38,8 50,8 8,8 35,4
Wien 30,0 49,9 19,9 45,7

Tabelle 2: Mindestpersonalausstattung für ein Musterheim mit 71 Betten und einer durchschnittlichen Pflegegeldstufe der Bewohner*innen von 4,7 (DGKP = Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson, P(F)A = Pflege(fach)assistenz, HH = Heimhilfe, VZÄ ges. = Vollzeitäquivalent gesamt; * ein interner Richtwert, der im Schnitt um 7 % unterschritten wurde)

Der Rechnungshof Österreich (2020) hielt fest, dass in keinem der Bundesländer die Personalausstattung analytisch nachvollziehbar aus dem Pflegebedarf und einer vordefinierten Qualität hervorgeht. So scheint das „Glück“ des einzelnen pflegebedürftigen Menschen auch von seinem Wohnort abzuhängen. Der Rechnungshof empfahl Sozialministerium wie den Ländern, die Personalausstattung
a) unter Berücksichtigung der tatsächlichen Personalanwesenheit in den Pflegeeinrichtungen zu harmonisieren,
b) am tatsächlichen Pflegebedarf und der angestrebten Pflegequalität auszurichten und
c) regelmäßig an die geänderten Rahmenbedingungen anzupassen (Rechnungshof, 2020, S. 122, 124).

Drei Jahre sind seither ins Land gezogen, und scheinbar tut immer noch jeder, was er will – bei sich dramatisch zuspitzenden Rahmenbedingungen. Ist es gerechtfertigt, dass beispielsweise der „Talkaiser“ von Tirol mit ca. 771.000 Einwohner*innen in deutlich größerem Umfang regional entscheidet im Vergleich zum Oberbürgermeister von Deutschlands fünftgrößter Stadt Frankfurt am Main mit nahezu gleich vielen Einwohner*innen (753.000)? Derart sensible gesellschaftspolitische Entscheidungen dürfen nicht in neunfacher Version am Jahrmarkt der österreichischen Parteien unterschiedlichen Colours entschieden werden. Und scheinbar geht es doch, der eine entscheidet, der andere zahlt – auf Kosten der Bürger*innen.

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Literatur

Parlament Österreich (3. 2023). Bund & Länder. https://www.parlament.gv.at/verstehen/politisches-system/bund-laender

Rechnungshof Österreich (2020). Pflege in Österreich. Bericht des Rechnungshofes. Wien

Simon, M., & Mehmecke, S. (2017). Nurse-to-Patient Ratios. Ein internationaler Überblick über staatliche Vorgaben zu einer Mindestbesetzung im Pflegedienst der Krankenhäuser. Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung.

Wikipedia (24.1.2023). Föderalismus. https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%B6deralismus

Zur Person

Univ. Ass. Dr. Claudia Leoni-Scheiber, MMSc

Claudia Leoni-Scheiber ist Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin (Intensivpflege), Pflegepädagogin und Pflegewissenschaftlerin. Sie promoviert an der Universität Wien zum Effekt des Guided Clinical Reasoning, einer Schulungsintervention, auf die Einstellung und das Wissen diplomierter Pflegefachpersonen zum Advanced Nursing Process sowie auf die Qualität von Pflegediagnosen, -interventionen und Pflegeergebnissen. Aktuell ist sie an der Tiroler Privatuniversität UMIT-Tirol Koordinatorin am FH-Standort Reutte.

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