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Daniel Schümann, M.Sc.
Pflege als Heilberuf- zwischen Arztvorbehalt und Eigenverantwortung

Frau L. lebt seit mehreren Jahren in einem Pflegeheim. Vor ihrem Einzug war sie weitgehend selbständig, doch gesundheitliche Einschränkungen, darunter Arthrose, Diabetes Mellitus Typ 2 sowie ein Sturz Oberschenkelhalsbruch, machten eine umfassende Betreuung erforderlich. Im Pflegeheim ist sie mit einem Rollator mobil, zeigt jedoch seit einigen Tagen Symptome wie vermehrten Durst, Müdigkeit und nachlassende Konzentration. Das Pflegepersonal stellte zudem eine zunehmende Harninkontinenz fest. Da der Hausarzt trotz mehrmaliger Anfragen nicht erreichbar war, entschied das Pflegepersonal, unter der Verantwortung der Pflegefachperson Blutzuckertagesprofile zu erstellen. Dabei fielen starke Schwankungen der Blutzuckerwerte auf, die dem Hausarzt gemeldet wurden.

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Kurz darauf überprüfte der Medizinische Dienst (MD) das Pflegeheim. Frau L. wurde als Teil der Stichprobe ausgewählt, und die Fachkräfte des MD stellten fest, dass das Messen des Blutzuckers ohne ärztliche Anordnung erfolgte.

Die Beurteilung des MD basiert auf dem Heilpraktikergesetz (1939), wonach die Ausübung der Heilkunde ohne Arzt oder Ärztin zu sein erlaubnispflichtig sei. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung definiert Tätigkeiten wie Anamnese, Indikationsstellung, Diagnosestellung und invasive Maßnahmen als dem Arztvorbehalt unterliegend (Bundesärztekammer 2008). Das Blutzuckermessen fällt unter diese Regelung, wenn es der ärztlichen Diagnostik dient.

Der MD argumentierte, dass das Blutzuckermessen ohne ärztliche Anordnung gegen den Arztvorbehalt verstößt und damit als unerlaubter Eingriff gilt. Dies wirft jedoch Fragen auf: Ist das regelmäßige Blutzuckermessen bei einer Bewohnerin mit diagnostiziertem Diabetes wirklich ein ärztlicher Eingriff? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten dabei?

Nach dem Pflegeberufegesetz (PflBG, 2020) gehören die Feststellung des Pflegebedarfs, Steuerung des Pflegeprozesses und Qualitätssicherung zu den Vorbehaltsaufgaben der Pflege (PflBG, 2020, §4). Die Einstufung nach Pflegegraden lässt jedoch keine verlässliche Aussage über den tatsächlichen Pflegebedarf zu. Hier setzen Pflegediagnosen an, wie etwa ein „Risiko für ein ineffektives Selbstmanagement des Blutzuckerprofils“ (Herdman et al. 2024). Diese Diagnose trifft auf Frau L. zu, da ihre Erkrankung und gesundheitliche Gesamtsituation eine besondere Anfälligkeit für Blutzuckerschwankungen begründen. Die Nursing Outcome Classification (NOC) empfiehlt als Ziel eine Stabilisierung des Blutzuckerspiegels, während die Nursing Intervention Classification (NIC) regelmäßiges Monitoring vorsieht (Johnson, Moorhead 2013; Ackley et al. 2016).

Heilkunde- eine rechtliche Herausforderung

Der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege kritisierte 2007 die starke Arztzentrierung im deutschen Gesundheitssystem und empfahl eine stärkere Einbindung von Pflegefachpersonen. In den USA und Großbritannien übernehmen Pflegekräfte bereits heilkundliche Tätigkeiten, was die Versorgungsqualität verbessert und Ressourcen effizienter nutzt (AACN 2023). In Deutschland ermöglichen § 63 Abs. 3c und § 64d SGB V Modellprojekte zur Übertragung heilkundlicher Aufgaben, etwa im Diabetesmanagement. Dennoch gibt es bisher keine flächendeckende Umsetzung.

Die Substitution ärztlicher Leistungen durch Pflegefachpersonen wird von kassenärztlichen Vereinigungen kritisch gesehen, ein Absinken der Versorgungsqualität wird befürchtet (Kolbeck 20211). Was in dieser Diskussion bisher keine Beachtung findet ist, dass ein pflegerisches Handeln und das Wahrnehmen der pflegerischen Vorbehaltsaufgaben bereits ein heilkundliches Handeln umfasst. So sehen wir in Interventionskatalogen der NIC beispielsweise das Vermeiden von potentiell inadäquaten Medikamenten für ältere Menschen als pflegerische Maßnahme zur Vermeidung von Pflegebedarfen, die aus eventuellen Wechselwirkungen resultieren. Beispielsweise das Auftreten einer akuten Verwirrtheit so vermieden werden (Ackley et al. 2016). Ein bloßes substituieren ärztlicher Leistung ist hierbei nicht das Ziel, sondern vielmehr ein rechtlicher Rahmen für ein selbständiges, pflegerisches Handeln im Rahmen des Pflegeprozesses.

Pflege als Heilberuf

Der Kabinettsentwurf des Pflegekompetenzgesetzes (PKG) sieht vor, Pflege als Heilberuf zu definieren und Pflegefachpersonen zur selbstständigen Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten zu befähigen. Dies ermöglicht eine rechtssichere Umsetzung pflegerischer Vorbehaltsaufgaben. Ein Rahmenvertrag zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dem GKV-Spitzenverband und Pflegeverbänden legt die Kompetenzen fest (KBV 2023).

So wird beispielsweise die kapilläre und venöse Blutgewinnung zur Routinediagnostik als Maßnahme für Pflegefachkräfte definiert. Gleichzeitig sind Notfallmaßnahmen und das Rückführen instabiler Patienten in die ärztliche Versorgung geregelt. Diagnostische Maßnahmen dienen dabei nicht der medizinischen Diagnostik, sondern der Feststellung pflegerischer Bedarfe.

Der Einsatz von „Advanced Practice Nurses“ (APN), welche als akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen in der pflegerischen Versorgungspraxis tätig sind, macht durch eine Konsequente Anwendung des Pflegeprozesse mit Hilfe von Pflegediagnosen (NANDA-I), Outcome-Klassifikationen (NOC) und Interventionen (NIC) eine erweiterte Verantwortungsübernahme möglich.

Eine mehrstufige Qualifikation von der berufsschulischen Ausbildung über ein Studium bis hin zur eigenständigen Heilkundeausübung für Pflegefachpersonen mit Masterabschluss im Sinne einer durchlässigen Bildungssystematik kann so zukünftige Bedarfe zielgerichtet adressieren (Genz & Gahlen- Hoops 2024).

Fazit

Pflegefachpersonen sind gesetzlich verpflichtet, den Pflegeprozess nach Fiechter und Meier umzusetzen und die Vorbehaltsaufgaben gemäß §4 Pflegeberufegesetz wahrzunehmen. Dabei beinhaltet ihr Handeln oft heilkundliche Tätigkeiten – Von invasiven Maßnahmen, wie kapillären Blutentnahmen im Fallbeispiel, über bestimmte Assessment- Verfahren bis hin zu Überprüfung von Medikamentenplänen ist dazu ein heilkundliches Handeln implizit. Das Übernehmen heilkundlicher Aufgaben ermöglicht so selbstwirksames Handeln zur Pflegeprozessgestaltung.

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Literatur

Ackley, B.; Ladwig, G..; Flynn Makic, M. (2016). Nursing Diagnosis Handbook. An Evidence-Based Guide to Planning Care. Elsevier Health Sciences.

American Association of Colleges of Nursing (AACN) (2023). The Impact of Education on Nursing Practice. Online verfügbar unter https://www.aacnnursing.org/news-data/fact-sheets/impact-of-education-on-nursing-practice

Bundesärztekammer (Hg.) (2008). Persönliche Leistungserbringung. Möglichkeiten und Grenzen der Delegation ärztlicher Leistungen. Deutsches Ärzteblatt: 105 (41).

Genz, Katharina & Gahlen-Hoops, Wolfgang von (2024). BAPID: Bildungsarchitektur Pflege in Deutschland. CNE Pflegemanagement, 6, 8-10. DOI: 10.1055/a-2428-3814

Herdman, T. H., Kamitsuru, S. & Takáo Lopes, C. (Hrsg.). (2024). NANDA international nursing diagnoses, inc: Definitions & classification : 2024-2026 (Thirteenth edition). Thieme. https://doi.org/10.1055/b000000928

Johnson, M. & Moorhead, S. (2013). Pflegeergebnisklassifikation (NOC).

Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) (2023): Rahmenvertrag zur verpflichtenden Durchführung von Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten nach §64d Sozialgesetzbuch V. Online verfügbar unter https://www.kbv.de/html/59308.php.

Kolbeck, C. (2011) Ärzteverbände sehen Übertragung heilkundlicher Leistungen skeptisch. Medical Tribune. https://www.medical-tribune.de/meinung-und dialog/artikel/aerzteverbaende-sehen-uebertragung-heilkundlicher-leistungen-skeptisch

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) (2007). Kooperation und Verantwortung. Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Online verfügbar unter https://www.svr-gesundheit.de/gutachten/gutachten-2007

Pflegeberufegesetz (2020). https://www.gesetze-im-internet.de/pflbg/

Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2024). Pflegekompetenzgesetz (PKG). https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/pflegekompetenzgesetz-pkg.html.

Zur Person

Daniel Schümann, M.Sc. Public Health

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Pflege an der Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften

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