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ANDREAS SÖNNICHSEN
Risikokommunikation zu COVID-19 und risikoadaptiertes Pandemiemanagement

Die COVID-Berichterstattung wird dramatisiert, ohne die Gesamtsterblichkeit und Betroffenheit bestimmter Bevölkerungsgruppen angemessen zu nennen. Die Todesfallzahlen machen deutlich, dass die Übersterblichkeit 2020 kaum größer ist als die vorangegangener Grippewellen, und dass sie nicht nur durch COVID, sondern auch durch Versorgungsdefizite als Folge der Corona-Maß-nahmen bedingt ist. Die Zahlen zeigen auch, dass Ältere die Hauptbetroffenen sind, und die Möglichkeiten, diese Bevölkerungsgruppe zu schützen bei weitem nicht aus-geschöpft wurden.

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Am 21. März 2020 zeigte die Tageszeitung ,,Der Standard“ auf seiner Titelseite ein Foto mit mehreren Militärfahrzeugen auf einem Friedhof von Bergamo, die „65 Särge mit verstorbenen COVID-19-Patienten in andere Provinzen abtransportierten“, ti-telte darüber „Horror in Bergamo“ und machte das drittgrößte Spital der Lombardei zum „nationalen Schützengraben im Krieg gegen das Coronavirus“ [1]. Tatsächlich lag in Italien damals eine leichte Übersterblichkeit vor, doch in den Berichten wurden fast ausschließlich kumulative Absolutzahlen genannt, die ein dra-matischeres Bild vermitteln als Zahlen im Kontext von Gesamt-sterblichkeit und betroffenen Bevölkerungsgruppen. Auch im internationalen Dashboard der Johns Hopkins University [2] sowie im österreichischen Dashboard des Gesundheitsministeriums bzw. der AGES stehen kontextlose Absolutzahlen im Vordergrund (siehe Abb. 1) [3].

Abb. 1: Startseite des COVID-19-Dashboards der AGES (Screenshot)

Immerhin werden mittlerweile auch Zahlen pro 100.000 Einwoh-ner*innen angegeben, aber es fehlt weiterhin der Bezug zur Gesamtsterblichkeit und der Vergleich zu anderen Jahren. Dieser offenbart, dass sich die Sterblichkeit in Österreich 2020 bis zur 42. Kalenderwoche nicht wesentlich von den vier vorangegangenen Jahren unterscheidet. Erst in den letzten Wochen zeichnet sich eine Übersterblichkeit ab (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Gesamtsterblichkeit in Österreich von 2016-2020

Die Gesamtzahl der Todesfälle liegt 2020 (bis zur 50. Kalender-woche, die Daten zu den letzten beiden Wochen des Jahres liegen noch nicht vor) um 7.627 über dem Durchschnitt der Jahre 2016-2019 (ebenfalls jeweils bis zur 50. Kalenderwoche) (86/100.000 Einwohner*innen). Das bedeutet allerdings, dass die Übersterb-lichkeit um 2.602 Fälle (29/100.000) oder fast 52% über den bis zur 50. Kalenderwoche ausgewiesenen 5.025 COVID-Todesfällen (57/100.000) liegt, und es bleibt unklar, ob dies auf nicht erfasste COVID-Todesfälle oder (wahrscheinlicher) auf Nicht-COVID-Todes-fälle durch Versorgungsdefizite zurückzuführen ist. Hierüber wird aber in den offiziellen Medien und Regierungsinformationen geschwiegen.
Auch die Altersabhängigkeit des Risikos, an COVID zu versterben, wird unzureichend in die öffentliche Risikokommunikation ein-bezogen. So muss man auf dem AGES-Dashboard auf der letz-ten Seite ganz nach unten scrollen, um zu erfahren, dass das Todesfallrisiko für Menschen unter 45 Jahren nahezu Null ist [3]. Zwischen 45 und 64 Jahren liegt ein sehr geringes Sterberisiko vor, und erst ab 65-70 Jahren steigt das Risiko merklich an [4], vor allem für Männer über 85 Jahren, und vor allem für Menschen mit Vor- und Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus, Hyper-tonie, Herzkreislauferkrankungen, Niereninsuffizienz und Krebs [5]. Zudem betreffen, je nach Zeitraum und Region, mehr als 50% aller Todesfälle Pflegeheimbewohner*innen [6].
Das Gesamtbild macht deutlich, dass das Risiko, durch COVID zu sterben, in der Bevölkerung außerordentlich ungleich verteilt ist und, dass es gilt, die gefährdeten Gruppen verstärkt in den Fokus der Maßnahmen zu rücken und dies auch entsprechend zu kom-munizieren. Ein Blick in die internationale Literatur zeigt, dass hier die Möglichkeiten bei Weitem noch nicht ausgeschöpft wurden. In einer französischen Studie wurden 17 Pflegeheime, deren Pflegende sich freiwillig mit den Bewohner*innen in den Hei-men isoliert hatten (das Personal blieb, abgesehen von wenigen Ausnahmen, sieben Tage durchgehend im Heim, dann erfolgte ein Schichtwechsel), mit Heimen ohne diese Maßnahme aus einem nationalen Survey verglichen. Die COVID-19 assoziierte Todesfallrate lag um etwa 80% unter der Rate der Heime ohne diese Maßnahme [7].
Eine Studie aus den USA untersuchte die Wirksamkeit von prä-ventivem Testen in 28 Pflegeheimen [8]. In 13 Pflegeheimen, in denen präventiv das gesamte Personal und alle Bewohner*innen getestet wurden, erkrankten 17 von 1163 Personen (Personal und Bewohner*innen) und nur drei Bewohner*innen verstarben (0,26%). In 15 Vergleichseinrichtungen, in denen erst nach Auf-treten des ersten Erkrankungsfalls getestet wurde, erkrankten 723 von 1705 Personen und 109 verstarben (6,4%). Das präventive Tes-ten reduzierte die Todesrate also um mehr als 90%. Eine weitere Studie aus Frankreich verglich die Wirksamkeit des Unterteilens in Bereiche und die strikte Zuteilung des Personals zu einzel-nen Bereichen in 74 Pflegeheimen mit 50 Heimen ohne diese Maßnahme. Das Erkrankungsrisiko wurde um 71% gesenkt [9]. Diese drei Beispiele zeigen, dass eine Prävention von COVID-19-Erkrankungen und Todesfällen in Pflegeheimen möglich ist. Entsprechende Maßnahmen sind geboten, um den Schutz der älteren Bevölkerung weiterzuentwickeln und wissenschaftlich abzusichern. Die sehr früh im Pandemiegeschehen formulier-ten Forderungen aus der Wissenschaft [10] nach einer soliden klinisch-epidemiologischen Datenbasis durch zielgerichtetes Testen, systematische Dokumentation, Aufbau eines Registers und Beforschung von Versorgungsmodellen im Setting Pflege-heim wurden bis heute nicht ausreichend umgesetzt. Die für Massentests asymptomatischer und nicht gefährdeter Personen verschwendeten Ressourcen wären für die Verbesserung von Infrastruktur und Personal im Pflegebereich sicher sinnvoller eingesetzt.

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Literatur

[1] Straub D. Horror in Bergamo – und bald auch in Mailand [Internet]. 2020 [zitiert 2021 Jan 1];Available from: https://www.derstandard.at/story/2000116015703/horror-in-bergamo-und-bald-auch-in-mailand

[2] Center for Systems Science and Engineering. Coronavirus COVID-19 (2019-nCoV) [Internet]. Johns Hopkins Univ.2020 [zitiert 2020 März 13];Available from: https://www.arcgis.com/apps/opsdashboard/index. html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6

[3] Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH. AGES Dashboard COVID19 [Internet]. 2021 [zitiert 2021 Jan 1];Avai-lable from: https://covid19-dashboard.ages.at/

[4] Levin AT, Hanage WP, Owusu-Boaitey N, Cochran KB, Walsh SP, Meye-rowitz-Katz G. Assessing the age specificity of infection fatality rates for COVID-19: systematic review, meta-analysis, and public policy implicati-ons. Eur. J. Epidemiol. 2020;35:1123–38.

[5] Ssentongo P, Ssentongo AE, Heilbrunn ES, Ba DM, Chinchilli VM. Asso-ciation of cardiovascular disease and 10 other pre-existing comorbidities with COVID-19 mortality: A systematic review and meta-analysis. PLOS ONE 2020;15:e0238215.

[6] Matzenberger M, Pollak K, Scherndl G. Was der rapide Anstieg der Corona-Todeszahlen in den Heimen bedeutet [Internet]. 2020 [zitiert 2021 Jan 1];Available from: https://www.derstandard.at/story/2000121824184/massiver-anstieg-an-corona-toten-in-alten-und-pflegeheimen

[7] Belmin J, Um-Din N, Donadio C, Magri M, Nghiem QD, Oquendo B, u. a. Coronavirus Disease 2019 Outcomes in French Nursing Homes That Implemented Staff Confinement With Residents. JAMA Netw. Open 2020;3:e2017533.

[8] Telford CT, Onwubiko U, Holland DP, Turner K, Prieto J, Smith S, u.a. Preventing COVID-19 Outbreaks in Long-Term Care Facilities Through Preemptive Testing of Residents and Staff Members – Fulton County, Geor-gia, March-May 2020. MMWR Morb. Mortal. Wkly. Rep. 2020;69:1296–9.

[9] Rolland Y, Lacoste M-H, de Mauleon A, Ghisolfi A, De Souto Barreto P, Blain H, u. a. Guidance for the Prevention of the COVID-19 Epidemic in Long-Term Care Facilities: A Short-Term Prospective Study. J. Nutr. Health Aging 2020;24:812–6.

[10] Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Corona-Virus in unse-ren Pflegeheimen – ein evidenzfreies Drama in drei Akten. Stellungnah-me [Internet]. 2020 [zitiert 2020 Dez 3];Available from: https://www. ebm-netzwerk. de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-corona-pflegehei-me- 20200428.pdf

Zur Person

Univ.-Prof. Dr. Andreas Sönnichsen

Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Allgemeinmedizin (Bay. Landesärztekammer), Wien.

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