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Esther Matolycz
Was kann (nur) Pflege?
Auf der Suche nach dem USP

Je mehr Menschen wissen, was eine Berufsgruppe (ein Fach, eine Disziplin) überhaupt tut, desto besser stehen ihre Chancen auf Selbstbestimmtheit. Weiter braucht es dazu weitgehende Einigkeit darüber, dass die Berufsgruppe, das, was sie tut und kann, allein kann. Sozusagen gilt: ein USP (1) (Unique Selling Point) muss her.

Pflege hat einen oder hat keinen oder ist noch auf der Suche – so fallen, je nachdem, wen oder wie man fragt, die Antworten aus. Hier soll das anwaltschaftliche Tun pflegender Profis angesehen werden, ebenso der besondere Blick, der ihnen eigen ist – es handelt sich um einen Blick, der Pflegende zu Kulturverständigen macht.

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Auf der Suche nach dem, was der Pflege eigen ist, kommt man wahrscheinlich schnell in die Nähe dessen, was (teilweise reflex- und daher ein wenig floskelhaft) mit Interaktion und Kommunikation umrissen wird. In Studium und Ausbildung spielt alles das eine große Rolle, was mit menschlichem Miteinander, hier besonders mit Empathie-Fähigkeit oder dem Wechsel von Nähe und Distanz oder Prozessen des Verstehens, kurz: mit Kommunikation zu tun hat.
Zweifellos zeichnet das Pflegende aus, allerdings auch viele andere Berufsgruppen – zum USP taugt es also nicht.
Pflegende zeichnet darüber hinaus aber aus, dass sie so lange und so nahe an Klient*innen sind, wie – und das stellt sie sehr wohl allein – kaum eine andere Berufsgruppe (vgl. Windhaber et al., 2015). Diese Nähe macht die Angelegenheit nicht nur anspruchsvoll, sondern ermöglicht auch, den vielbemühten Begriff der Ganzheitlichkeit mit Leben zu füllen. So, wie es die ATLs, die AEDLS (man denkt an Juliane Juchli, Monika Krohwinkel) sehen, hat Pflege so gut wie überall Anteil oder kann ihn haben.
Sie ist im wahrsten Sinn des Wortes an Haut und auch Haar, an der Nahrungsaufnahme, der Bewegung, den Vitalparametern, der Umgebung des Klienten, der Klientin – und zwar im bildlichen wie im übertragenen Sinn: Möglicherweise will der Wohnraum so gestaltet werden, dass jemand sich weitgehend frei darin fortbewegen kann. Ebenso sind aber menschliche Bedürfnisse, das ist bekannt, abhängig von jemandes Geschichte, von räumlicher, familiärer, sozialer Herkunft, von Werthaltungen, (religiösen) Überzeugungen, und schließlich steht das, was man Kultur nennt, auch mit Herkunftsland oder -ethnie in Zusammenhang; so sehr, dass es mitunter darauf reduziert wird. Häufig wird der Begriff aber weiter gefasst: Was jemanden umgibt oder umgeben hat, nimmt Einfluss, wird zu einer (seiner) Kultur, die schließlich den einzelnen Menschen betrifft (Schugk, 2014), und damit auch seine Bedürfnisse oder Bedarfe bestimmt.

Pflegende haben die Aufgabe, den Blick auf Bedarfe (eher von Körperdaten abhängig, etwa Flüssigkeitszufuhr) und Bedürfnisse (eher individuell) zu richten, dabei abzuwägen, und das mitunter schnell. Per Gesetz tragen sie im multiprofessionellen Versorgungsteam die Verantwortung für alle von ihnen gesetzten Maßnahmen, und diese Maßnahmen wieder müssen dem ganzheitlichen Blick auf die Situation des oder der Klient*in Rechnung tragen.
Freilich, man erhebt Daten, erstellt Anamnesen. Zugleich ist die Zeit oft knapp und wird es immer das eine oder andere geben, das sich dieser Erhebung entzieht. Es mag nur diffus spürbar sein, es mag sich im Moment etwas auftun, das sich davor nicht gezeigt hat, und dann ist es an Pflegenden, zu reagieren. Pflegewissenschaftler*innen versuchen, diese Formen des Spürens zu fassen, indem sie sich auf die Suche nach dem begeben, was zwar mit körperlichen Äußerungen zu tun hat, aber doch nicht darauf festzulegen ist; man spricht von Erscheinungen, von (Pflege)-Phänomenen, die „leiblich“ zu erfassen wären (etwa: Hunger oder Durst oder Schmerz; vgl. Uzarewicz/Moers, 2012; ähnlich Friesacher 2015 oder Darmann-Finck, 2009).

Nimmt man nun das interagierende, kommunizierende Nahe-Sein, das sich nicht nur spüren, sondern auch deutend auf Bedarfe und Bedürfnisse von Klient*innen hinbewegt, dann kommt man auf die Rolle des oder der Kulturverständigen. Kultur ist dabei nicht auf geografische oder ethnische Herkunft verengt, sondern meint alles, was Menschen umgibt und umgeben hat – und damit auch, wie Zeit und gewiss auch Zeitgeist auf Denken und Empfinden samt Bedarfen und Bedürfnissen Einfluss genommen haben.

Das braucht nicht immer eine ganze Biographie (und freilich ist es wunderbar, wenn sie in Langzeit-Settings erhoben wird; im Umfeld einer Appendix-Operation sieht es verständlicherweise anders aus), sondern eher den geübten Blick.
Pflege ist schließlich auch Problemlösen, und dort, wo sich Schwierigkeiten auftun, ist schnelles Erfassen gefragt, wie es vielleicht spürend vonstattengeht, während auch noch versucht wird, die persönliche Kultur des Klienten, der Klientin wahrzunehmen – auch ohne (viele) Worte. Wahrscheinlich umso eher, als die Gesamtsituation sich schwierig darstellt.

Pflegende, schließlich, können in dem, was sie erfasst haben, für Klient*innen anwaltschaftlich tätig sein (ein klassisches An-liegen, eine Spezialität Angehöriger von Professionen), insofern sie sie und ihre Bedürfnisse vertreten. Besonders wird das im Rahmen von Pflege dort wirksam werden können, wo Bedürfnisse auf Bedarfe reduziert bzw. durch andere Interessen (etwa ökonomische) zurückgedrängt zu werden drohen. Oder dort, wo Klientinnen und Klienten schlicht niemanden haben, der für ihre Interessen eintritt.

Pflegende versuchen also, sich möglichst schnell einen Gesamteindruck zu machen. Über das, was Menschen aus Sicht einer Datenlage zu brauchen scheinen – und darüber, was ihnen dringendes Bedürfnis ist. Je besser das gelingt, desto eher werden komplexeste Pflegesituationen bewältigt (wer einmal versucht hat, demenziell Erkrankte am nächtlichen „Heimfahren“ zu hindern oder die Essens-, Trink- oder Schlafsituation eines/einer Schwerstkranken zu verbessern, wer auf Covid-Stationen tätig ist – die*der zum Beispiel weiß, wovon die Rede ist).
Dieser Gesamteindruck schließt viele Aktivitäten und Erfahrungen menschlichen Daseins ein, und Pflegende gewinnen ihn, indem sie selbst auf unterschiedlichen Ebenen ins Miteinander eintreten und diese Ebenen auch wieder verlassen. Sie sind spürende Kulturverständige.

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Fußnoten

1)USP = Unique Selling Point; eigentlich der Wirtschaft entstammendes Merkmal, das ein Produkt/eine Ware einziartig macht; zum USP in der Pflege vgl. Windhaber et al. (2015) Positionspapier der jungen Pflege in Österreich [https://www.oegkv.at/fileadmin/user_upload/Diverses/Positionspapier_der_jungen_Pflege_in_OEsterreich_.pdf]

Literatur

Darmann-Finck I (2009) Professionalisierung durch fallrekonstruktives Lernen? In: Darmann-Finck I, Böhnke U, Straß K (Hg) (2009) Fallrekonstruktives Lernen. Ein Beitrag zur Professionalisierung in den Berufsfeldern Pflege und Gesundheit. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag, S. 11-36

Friesacher H (2015) Wider die Abwertung der eigentlichen Pflege. – in: intensiv. Fachzeitschrift für Intensivpflege und Anästhesie 4|15, S. 200-2014 https://www.thieme.de/statics/bilder/thieme/final/de/bilder/tw_pfle-ge/Friesacher_intensiv_4_15_.pdf; [Zugriff: 17.01.2021]

Schugk M (2014) Interkulturelle Kommunikation in der Wirtschaft: Grund-lagen und Interkulturelle Kompetenz für Marketing und Vertrieb. Vahlen, München, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Stichweh R (2013) Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologogische Analysen: Bielefeld, transcript Verlag
Uzarewicz C, Moers M (2012) Leibphänomenologie für Pflegewissenschaft – eine Annäherung. In: Pflege & Gesellschaft 17 (2) S. 101-110 Windhaber et al. (2015) Positionspapier der jungen Pflege in Österreich

[https://www.oegkv.at/fileadmin/user_upload/Diverses/Positionspa-pier_der_jungen_Pflege_in_OEsterreich_.pdf; Zugriff: 17.01.2021]

Zur Person

Mag. Dr. Esther Matolycz

DGKS, Publizistin; Studium der Pädagogik mit Schwerpunkt Berufspädagogik des Gesundheitswesens, besondere Nähe zur Geriatrie.

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