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Esther Matolycz
"Am Boden". Scheinheiligkeit
Aus gegebenem Anlass soll die Bildung heute quasi der Unbildung gewidmet sein. Gemeint ist damit, dass bewusst an Emotionen adressiert wird und dass dabei Differenzierungen unterbleiben.

„So sieht Patientenversorgung in Wien 2023 aus!“[1] Dazu Bilder, die nur falsch interpretieren kann, wer das Fach (und zwar die Pflege) nicht ziemlich im Detail kennt und versteht.

Unschwer zu erraten, welche Zeitung es ist, die so titelt; ein Blatt, dass sich bürger*innennahe gibt und in der Wahl der Aufmacher nicht besonders zimperlich ist. Es wird also in großen Lettern gebrüllt. Menschen am Gang und da wiederum am Boden, sie „fristen ihr Dasein unter Zelten aus Laken.“ Blumige Worte, um die Zumutungen betonen, die die diese „Zustände“ über die Menschen bringen. Keine Rede könne mehr sein „von einer Patientenwürde“ (meint ausgerechnet das Blatt, das, wie es sagt, zugespielte Fotos quer durch die Tagespresse schickt und Fotos der Patientin – wenn auch verpixelt – zeigt).

Die Leser*innenschaft rät in den Kommentaren dieser und jener Politiker*in zum Abdanken, glaubt zu wissen, dass es einzelne Bevölkerungsgruppen sind, die dem Anständigen die Butter vom Brot fressen; nichts Neues also, wenn „Teile und herrsche!“ greift.

[1] Stewart 2023

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Im Artikel (nicht nur in dieser Zeitung, auch in anderen) wird zwischen zwei grundlegenden Dingen nicht unterschieden. Das eine: Menschen liegen in Gangbetten, weil in den Zimmern kein Bett mehr frei ist. Darum ging es in der Situation nicht.

Das andere: Menschen werden aus ganz bestimmten Gründen auf Betten oder Matratzen in Bodennähe (nicht: am Boden) positioniert; man nennt das Bodennahe Pflege.

Das nicht unterschieden wird, ist natürlich fatal. Glück habe, so ist auch zu lesen, wer überhaupt noch ein Gangbett bekomme, zumal die Kranken in Wien in Provisorien „wie die Halbtoten in den China-Lazaretten nach den Coronawellen“, untergebracht würden, vornehmlich ältere Menschen. Der Folgeartikel erscheint, nachdem die Angelegenheit Wellen geschlagen hat; auf einem Foto werden per Mousover dann die einzelnen Baustellen dieses Provisoriums dargestellt. Einiges stimmt (grelles Licht ist tatsächlich ein Problem), das leere Gangbett, dass gegenüber der Bodenpflege in Stellung gebracht wird (ein Luxus wäre das im Vergleich) (Stewart/Pommer 2023) ist natürlich als solches ein gravierendes Problem, aber darum, dass es vergleichsweise Luxus wäre, geht es hier eben nicht.

 

Bodennahe Pflege

Bodennahe Pflege ist – Pflegende wissen das – ethisch nicht unumstritten, aber jedenfalls ein Mittel der Wahl, wenn’s keine Alternativen gibt. Und Alternativen gibt es nicht, wenn es Nacht ist, keine Sitzwache verfügbar, die Patient*in hingegen eingeschränkt oder (jedenfalls zur Situation) gar nicht orientiert. Dann nämlich kann es sein, dass sie versucht, das Bett zu verlassen.

Freiheitsbeschränkende Maßnahmen dürfen, auch das ist bekannt, nur mehr eingesetzt werden, wenn man mit gelinderen (also „milderen“) Mitteln nicht zum Ziel kommt.

Das war einst anders, und in diese Zeiten möchte man – zum Glück – nicht zurück. Segufix an den Extremitäten, Netzbetten und ähnliche Maßnahmen gehören entweder überhaupt der Geschichte (im Fall der Netzbetten) an oder sind nur unter Einhaltung sehr klar definierter Standards zulässig. Weshalb das so ist, wissen Pflegende ebenfalls: schlicht und einfach sind das Fragen des Menschenbildes, nämlich einem, das von Würde und Selbstbestimmung getragen ist; in aufgeklärten und menschenfreundlichen Gesellschaften möchte man weder den Einschluss noch den Entzug von Freiheit der Situation und dem Gutdünken Einzelner überlassen, sondern sie als aller(!)letztes Mittel eingesetzt sehen. Dazu kommt: Wird einem Menschen Freiheit entzogen, erlebt er einen Spannungszustand, der in der Psychologie Reaktanz heißt. Er will aufgelöst werden, was – je nach Reflexionslevel  – und individuellen Coping-Strategien auf unterschiedliche Weise geschieht. Bei eingeschränkter Orientiertheit wird vorrangig eines passieren: der oder die Betroffene wird versuchen, die Barrieren zu überwinden. Also: übers Gitter gelangen, die Fixierungen entfernen. Würde man das also selbst so ohne Weiteres einsetzen dürfen, würde es die Gefahr nicht mindern, sondern erhöhen.

Was tun also Pflegende? Das, was in der Situation möglich ist, und zwar so angenehm und sicher gestaltet, wie irgend möglich. Auch unter knappen Ressourcen. Im Fall, um den es geht, war das offenbar die Matratze am Boden, dazu eine Art Sichtschutz, zusammengebaut aus einem Leintuch.

Wer genau hinsieht, mag in solchen Situationen auch ein Kuscheltier oder –polster finden, und wer im aktuell durchs Dorf getriebenen Fall auch nur ein wenig weitergelesen hat, mag gesehen haben, dass sich die Tochter der Patientin für die Maßnahmen ausgesprochen hat.

Shitstorms und Scheinheiligkeit

Der Shitstorm in einigen (nicht: allen) Medien war groß, richtete sich allerdings vergleichsweise wenig gegen Pflegende. Denn, wenn sich etwas herumgesprochen hat, dann dies: Pflegende tun, was sie können.

 

Sie stehen mit ihrem Können für diejenigen ein, die es nicht (mehr) selbst können, und auch für jene, die keine An- oder Zugehörigen haben, die ihnen im Moment zur Seite stehen (übrigens eine ganz typische Funktion und Eigenschaft von Professionsangehörigen).

Das sind Haltungen und Tätigkeiten, die eine Gesellschaft (besonders eine alternde) stützen.

Dass man dafür Profis braucht, das weiß man. Und was Beiträge wie die Gezeigten für die (gesellschaftliche) Wahrnehmung von Pflege tun, mag man sich denken.

Es werden dieselben Blätter sein, die heute über die „Zustände“ berichten, und morgen und übermorgen scheinbar besorgt „fragen“, weshalb Pflege ein so schlechtes Image hat oder weshalb Ältere sich vor dem Krankenhaus fürchten.

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Fußnoten

Stewart, P (2023) Am Boden im AKH. So sieht Patientenversorgung in Wien 2023 aus! (2023, 29.03.) Kronen Zeitung, Bundesländer, Wien https://www.krone.at/2968027

Stewart P, Pommer M (2023) Patienten am Boden. Die Politik will uns DAS als normal verkaufen. (2023, 31.03.), Kronen Zeitung,

https://www.krone.at/2968808

Literatur

Esther Matolycz, Mag. Dr. phil. DGKP, LfGuK,

Studium der Erziehungs-/Bildungswissenschaft und Publizistik, tätig in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Pflege- und Sozialbereich.

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