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Sabine Hahn
Interview mit Mag.a Evelyn Kölldorfer-Leitgeb und Dr. Michael Binder zum Thema Sicherheit und Gewaltprävention

Frau Mag.a Evelyn Kölldorfer-Leitgeb, Generaldirektorin des Wiener Gesundheitsverbundes (WIGEV) und Herr Dr. Michael Binder, Medizinischer Direktor des WIGEV stellen sich zum Thema Aggression in der Gesundheitsversorgung den Fragen von Prof. in Dr. Sabine Hahn, Leiterin des Fachbereichs Pflege der Berner Fachhochschule (BFH), Schweiz. Der WIGEV ist einer der größten Gesundheitsdienstleister in Europa. In acht Kliniken und neun Pflegehäusern sowie dem Therapiezentrum Ybbs sind 30.000 Mitarbeiter*innen aus Pflege, Medizin und Therapie sowie den administrativen Bereichen beschäftigt. Im WIGEV wird seit vielen Jahren eine kontinuierliche systematische Auseinandersetzung mit dem Thema Aggression gepflegt. Der WIGEV verfügt über ein professionelles Konzept zur Prävention, Intervention und Nachsorge von Aggression. Regelmäßige Schulungen und Erhebungen zur Thematik werden durchgeführt. Die BFH führte 2018 und 2022 jeweils eine anonymisierte Gesamterhebung im WIGEV durch. Frau Prof.in Dr. Sabine Hahn erforscht das Thema Aggression im Gesundheitswesen seit Jahren und unterstützt Organisationen in der Entwicklung eines effektiven Aggressionskonzepts. Frau Mag.a Evelyn Kölldorfer-Leitgeb und Herr Dr. Michael Binder ist die Patient*innen- und die Personalsicherheit ein großes Anliegen. Sie setzen sich für Aggressions- und Gewaltprävention und dem professionellen Umgang mit Aggression- und Gewalt im WIGEV ein.

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Prof.in Dr. Sabine Hahn: 90 % der Pflegefachpersonen und fast ebenso viele Personen anderer Gesundheitsberufe haben am Arbeitsplatz schon Aggression erlebt. An welche Situation erinnern Sie sich, bei der Sie selbst am Arbeitsplatz schon einmal Aggression erlebt haben?

Frau Mag.a Kölldorfer-Leitgeb: Menschen, die als Patient*innen oder Angehörige von Patient*innen in unsere Kliniken kommen, sind oft in emotionalen Ausnahmesituationen. Das muss man wissen, wenn man das Phänomen von Aggression und Gewalt im Spital betrachtet. Wichtig ist zu wissen, dass Mitarbeiter*innen im Gesundheitsbereich sich mit einer entsprechenden Ausbildung auf den Umgang mit aggressivem Verhalten von Patient*innen vorbereiten können. Das ist der Weg, auf den wir im Wiener Gesundheitsverbund seit vielen Jahren setzen. Natürlich haben auch wir in unserem Arbeitsalltag schon Situationen erlebt, in denen wir auf dieses Wissen zurückgreifen konnten.

Aggressions- und Gewaltprävention in Gesundheitsorganisationen wird zwar immer häufiger thematisiert, jedoch gibt es wenige Organisationen, bei denen das Thema von der höchsten Managementseite so professionell angegangen wird wie im WIGEV. Warum ist Ihnen das Thema Aggression am Arbeitsplatz ein so großes Anliegen?

Kölldorfer-Leitgeb: Wir setzen uns schon seit Jahren mit Aggression und Gewalt in unseren Einrichtungen auseinander, weil dies schlicht zur Lebensrealität unserer Mitarbeiter*innen gehört. Ganz zentral ist, dass die Organisationen einen bewussten und offenen Umgang mit dem Thema pflegen. Jede*r Mitarbeiter*in muss wissen, dass Gewalterfahrungen nicht einfach akzeptiert werden. Unsere Mitarbeiter*innen werden dazu ermutigt, Gewalterlebnisse lückenlos zu dokumentieren. Sie erhalten Unterstützung auf verschiedenen Ebenen: die entsprechende Ausbildung, um mit solchen Situationen optimal umgehen zu können; den Rückhalt in der Organisation, um Aggressionsereignisse zu melden; und letztlich ermutigen wir unsere Mitarbeiter*innen dazu, Anzeige zu erstatten, wenn das in der jeweiligen Situation geboten ist.

Was genau bietet der WIGEV seinen Mitarbeitenden zum Thema Aggression und Gewalt an und welche Aktivitäten werden im Rahmen von Prävention, Intervention und Nachsorge durchgeführt?

Herr Dr. Binder: Ganz zentral ist unsere Haltung einer Null-Toleranz gegenüber Gewalt und Aggression. Darauf aufbauend bieten wir unseren Mitarbeiter*innen eine ganze Reihe von Unterstützungsangeboten. Das reicht von einem niederschwelligen Meldesystem, über direkte Ansprechpersonen in allen Einrichtungen bis hin zu Schulungsangeboten und besonderen Versicherungsleistungen im Schadensfall.

Das Thema Sicherheit und Gewaltprävention ist für Sie eine Aufgabe des Managements. Wie bereiten Sie Ihr Führungsmanagement auf diese Herausforderung vor?

Kölldorfer-Leitgeb: Wir geben eine ganz klare Null-Toleranz-Politik vor, wenn es um das Thema Aggression und Gewalt geht. Unsere Führungskräfte wissen um die strategische Vorgabe, die existierenden Unterstützungsangebote und sie tragen die Verantwortung dafür, dass die Mitarbeiter*innen dazu ermächtigt werden, offen und selbstbewusst mit Gewalterfahrungen umzugehen. Wir befragen unsere Mitarbeiter*innen in regelmäßigen Abständen zu dem Thema. Die Ergebnisse zeigen uns, dass wir große Fortschritte gemacht haben.

Welche Erwartungen haben Sie an das Führungsmanagement des Wiener Gesundheitsverbundes zur Thematik?

Kölldorfer-Leitgeb: Der Schutz unserer Mitarbeiter*innen vor Aggression und Gewalt im Arbeitsalltag hat für mich oberste Priorität. Ich erwarte mir von meinen Führungskräften, dass sie das Ihrige dazu beitragen, dass unsere Null-Toleranz-Politik Realität wird. Und wir haben eine Vielzahl an Maßnahmen gesetzt und die Gewaltprävention in unserer Unternehmensorganisation verankert. Wir haben einen Lenkungsausschuss, ein zentrales Sicherheitsboard und Häuserboards für Gewaltprävention und Deeskalationsmanagement in den Teilunternehmungen und Kliniken eingerichtet. Das zentrale Sicherheitsboard hat als Entscheidungsgremium insbesondere folgende Aufgaben wahrzunehmen:

  • Beratung und Ausarbeitung von Beschlussvorlagen für den Vorstand für den Umgang mit Gewaltprävention und Aggressionsmanagement,
  • Ausarbeitung von gültigen Standards für den Wiener Gesundheitsverbund,
  • Steuerung des Sicherheitsboards der einzelnen Einrichtungen durch das Sicherheitsboard des Wiener Gesundheitsverbundes.

Die Sicherheitsboards der Teilunternehmungen und Kliniken haben als beratendes Gremium insbesondere folgende Aufgaben wahrzunehmen:

  • Beratung und Ausarbeitung von Empfehlungen für den Umgang mit Gewaltprävention und Aggressionsmanagement,
  • Ausarbeitung von gültigen Standards für die jeweilige Klinik bzw. das jeweilige Pflegewohnhaus und die Bearbeitung von Standards auf Basis von Empfehlungen, die im Lenkungsausschuss beschlossen wurden,
  • Wahrnehmung und Diskussion der Herausforderungen und Aufgabenstellungen der Mitarbeiter*innen und Aufbereitung von Empfehlungen.

Die BFH hat 2019 und 2022 jeweils eine großangelegte Umfrage zum Thema Aggression im WIGEV durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass etwa 60 % der Mitarbeitenden in Pflegewohnhäusern und in den Spitälern in den letzten 12 Monaten Aggression am Arbeitsplatz erlebten, aber nur 17 % in der Generaldirektion. Wie erklären Sie sich diesen erheblichen Unterschied?

Binder: Dieses Ergebnis überrascht mich nicht. Aggressives Verhalten zeigt sich hauptsächlich im unmittelbaren Umgang zwischen den Patient*innen, ihren Angehörigen und unserem Personal, insbesondere in unseren Kliniken und Pflegewohnhäusern. In administrativen Bereichen des Krankenhauses kommt es seltener dazu. Wir betreuen Menschen, Patient*innen und deren Angehörige, die sich manchmal in emotionalen Ausnahmesituationen befinden. Und Menschen gehen unterschiedlich mit derartigen Ausnahmesituationen um. Leider äußert sich dies mitunter auch durch aggressives Verhalten von Patient*innen und deren Angehörigen gegenüber unseren Mitarbeiter*innen. Wichtig ist, dass unsere Mitarbeiter*innen entsprechend geschult sind und wir den Teams in diesen Situationen beistehen.

Verbale Aggression wird am häufigsten erlebt. Ca. ein Viertel der Mitarbeitenden erleben jedoch auch Bedrohungen und körperliche Aggressionen am Arbeitsplatz. Dies trotz der professionellen Maßnahmen, welche vom WIGEV getroffen werden. Müssen wir eine gewisse „Grundaggression“ im Gesundheitswesen akzeptieren?

Binder: Eben nicht! Aggression und Gewalt sind in keiner Hinsicht akzeptabel, insbesondere nicht in Institutionen wie Kliniken und Pflegeeinrichtungen, deren Hauptziel die Unterstützung und Versorgung von Menschen ist. Es ist von großer Bedeutung, Aggression und Gewalt als Realität anzuerkennen und die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um Konflikte bestmöglich zu lösen. Ebenso ist es entscheidend, unsere Mitarbeiter*innen darin zu befähigen, sich bestmöglich vor Gewalterfahrungen zu schützen. In dieser Hinsicht gibt es noch viel Raum für Verbesserung und Maßnahmen, die ergriffen werden können.

Mit Abstand am häufigsten sind Mitarbeitende der Notfallbereiche (80 bis 90 %) von Aggression am Arbeitsplatz betroffen. Was steckt aus ihrer Sicht hinter diesen hohen Raten?

Binder: Ich wiederhole mich. Menschen, die sich in emotionalen Ausnahmesituationen befinden, können zu Aggression und Gewalt neigen. In unseren Notfallbereichen ist dieser emotionale Druck für die Mitarbeiter*innen besonders spürbar.

Es kommt oft vor, dass Aggression zwischen Mitarbeitenden und auch seitens der Vorgesetzten gegenüber den Mitarbeitenden nicht gemeldet wird. Als Vorstand des WIGEV haben Sie auch diese Thematik offen angesprochen und nehmen einen proaktiven Ansatz in Bezug auf solche Situationen ein. Es zeigt sich in unserer Umfrage, dass Mitarbeitende auch von Kolleg*innen (18 % verbal, 2 % körperlich), und von Vorgesetzten (verbal 7 %, ca. 1 % körperlich) Aggression am Arbeitsplatz erleben. Warum ist Ihnen auch dieser Bereich wichtig und wie gehen Sie mit diesen Ergebnissen um?

Binder: Wir dulden keinerlei Gewalt von Dritten gegenüber unseren Mitarbeiterinnen. Noch weniger tolerieren wir Gewalterfahrungen, die zwischen den Mitarbeiterinnen selbst auftreten. Der Umgang mit Aggression und Gewalt ist eine Frage der Einstellung und im Wiener Gesundheitsverbund gilt hier uneingeschränkte Null-Toleranz!

Wir wissen, dass ein effektives Aggressions- und Gewaltmanagement nur interprofessionell wirksam sein kann. Im WIGEV sind 76 % der Mitarbeitenden in irgendeiner Form zur Thematik geschult. Wie erreichen Sie so viele Mitarbeitende?

Kölldorfer-Leitgeb: Wir haben als Management die Möglichkeit, Prioritäten in unserer Organisation zu setzen. In der Gewaltprävention haben wir das gemacht. Wir haben eine Null-Toleranz-Politik in unsere Unternehmensverfassung geschrieben. Und wir leben diese Null-Toleranz-Politik: in unserer Kommunikation, mit konkreten Maßnahmen, mit den nötigen Schulungs- und Unterstützungsangeboten. Ich freue mich darüber, dass diese Angebote breit angenommen werden.

Viele Mediziner*innen, Physiotherapeut*innen, Laborangestellte und weitere Gesundheitsberufe beteiligen sich jedoch nicht so aktiv an Schulung, Prävention etc. Wie sieht dies im WIGEV aus? Und wie geht der WIGEV mit Widerständen um?

Kölldorfer-Leitgeb: Ich sehe keine nennenswerten Widerstände. Wir stellen Unterstützungsangebote dort zur Verfügung, wo Mitarbeiter*innen Bedarf haben. Im Wiener Gesundheitsverbund werden diese Angebote weitgehend angenommen. Es ist möglich, dass verschiedene Berufsgruppen unterschiedlich von diesem Thema betroffen sind. Es ist jedoch von großer Bedeutung, dass alle Zugang zu den entsprechenden Unterstützungsangeboten haben.

Bei der durchgeführten Erhebung waren 2022 im Vergleich zu 2018 etwa nur noch halb so viele Mitarbeitende von starken körperlichen und physischen Folgen von erlebter Aggression betroffen. Das ist sehr erfreulich. Wie interpretieren Sie diese Resultate?

Kölldorfer-Leitgeb: Unsere Maßnahmen zeigen deutlich Wirkung und das ist äußerst erfreulich. Es ist wichtig zu erkennen, dass Aggression und Gewalt im Gesundheitswesen auch weiterhin eine Realität bleiben werden. Deshalb werden wir weiterhin engagiert und entschlossen in dieses Thema investieren, um sicherzustellen, dass wir dauerhaft positive Veränderungen bewirken können.

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