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Kurt Schalek
Pflegewissen für die Politik

Pflegebedarf zu beurteilen gehört zu den Kernkompetenzen der Gesundheits- und Krankenpflege. Auch im Sozialsystem muss der Pflegebedarf immer wieder beurteilt werden, um zu entscheiden, wer Anspruch auf bestimmte Leistungen hat und wer nicht. Das betrifft etwa das Pflegegeld oder die Förderungen von Sachleistungen. Auch Leistungen für pflegende Angehörige hängen von diesen Einschätzungen ab – von der Pflegekarenz bis hin zu finanziellen Unterstützung für Ersatzpflege. Hier ist pflegerisches Know-how gefragt.

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Da reicht es nicht, zu fordern, die Pflegegeldeinstufung müsse ausschließlich von Pflegefachleuten durchgeführt werden. Denn auch wenn Pflegeprofis die Einstufung durchführen, müssen sie sich dabei an die Vorgaben halten. Deswegen müssen auch die rechtlichen Grundlagen für Entscheidungen pflegefachlich genügen.
Das fehlende rechtliche Verständnis von Pflegeleistungen ist ein sozialpolitisches Manko, das nicht nur Menschen mit Pflegebedarf und deren Angehörige betrifft. Auch beruflich Pflegende hängen über die Ressourcensituation im Gesundheits- und Langzeitpflegesystem am politischen Pflegeverständnis, das letztlich ausschlaggebend dafür ist, was als „ausreichende“ Ausstattung mit Personal gilt.
Dringend gesucht ist also eine sowohl fachlich als auch politisch anerkannte Definition der Leistung „Pflege“. Aktuell geben die relevanten Rechtstexte keine Auskunft über den Gegenstand und das Ziel von Pflege. Auch nicht das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, das lediglich ein Berufsbild aus Tätigkeiten und Kompetenzen zusammensetzt.

Was Pflege ausmacht

Hilfreich ist ein Blick auf die Grundlagen des Pflegebegriffs. Ausgangspunkt ist die Selbstsorge, also die Art und Weise, wie gesunde, erwachsene Menschen darüber entscheiden, wie sie ihr Leben im Rahmen der gesellschaftlichen Regeln gestalten. Für die Umsetzung der Selbstsorge müssen alle Menschen regelmäßig ihre Gesundheit pflegen, um die körperliche, psychische und soziale Handlungsfähigkeit zu erhalten. Und genau das beschreibt das Wort „Pflege“: den Aufwand, um einen Status und die Nutzbarkeit von etwas zu bewahren. Im Zusammenhang mit der Selbstsorge bezeichnet „Pflege“ Aktivitäten zur Erhaltung der Gesundheit und den Umgang mit Beeinträchtigungen und Einschränkungen.
Diesen Bedarf an der Pflege der Gesundheit gibt es vom Beginn unserer Existenz bis zu unserem Ende. Pflege ist keineswegs nur ein Bedürfnis kranker Menschen. Allerdings werden die Dienste der professionellen Gesundheits- und Krankenpflege eher in Situationen von Einschränkung und Krankheit in Anspruch genommen. Denn beeinträchtigungsfreie, erwachsene Menschen kümmern sich zumeist eigenständig um ihre Gesundheit, indem sie regelmäßig atmen, essen, schlafen, sich waschen, mit Sorgen und Ängsten klarkommen, sinnstiftenden Beschäftigungen nachgehen, Kontakte zu anderen Menschen aufrechterhalten und noch vieles mehr. Dieses Kümmern um die eigene Gesundheit wird als Selbstpflege bezeichnet, die jeder Mensch im Rahmen der Selbstsorge eigenständig gestaltet. Und da gibt es fallweise große Auffassungsunterschiede darüber, welche Pflegehandlungen in welcher Weise und in welcher Häufigkeit erforderlich sind.
Erst, wenn die eigenen Mittel und Möglichkeiten für die Selbstpflege nicht mehr ausreichen, wird Unterstützung durch andere gebraucht. Es tritt Pflegebedürftigkeit ein. Und damit kommt es auch zur Konkurrenz zwischen den persönlichen Selbstpflegegewohnheiten und den Ansichten der helfenden Menschen.

Professionell pflegen

Das Ziel der professionellen Gesundheits- und Krankheitspflege ist, Menschen ein möglichst eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu gewährleisten. Die Aufgabe der professionellen Pflege, ausgeübt durch qualifizierte Angehörige der Pflegeberufe, ist die fachlich fundierte und individuell abgestimmte Unterstützung eines Menschen bei der Pflege seiner bzw. ihrer gesundheitlichen Lebensvoraussetzungen.
Gesundheits- und Krankenpflege ist eine individualisierte Leistung, weil sich die Hilfe an der ganz persönlichen Selbstpflege orientieren muss. Nur so wird Unterstützung durch Dritte akzeptiert und als hilfreich erlebt. Der Begriff dafür heißt Personen-Orientierung. Allerdings richtet sich der Grad der individuellen Abstimmung auch nach den Möglichkeiten der verschiedenen Pflegesettings. Professionelle Gesundheits- und Krankenpflege muss in ihrer Arbeit die individuelle Selbstpflege der gepflegten Menschen mit ihrem pflegerischen Fachwissen vereinen. Dafür braucht sie entsprechende Qualifikationen und Kompetenzen.
Erfolgreiche Pflege ist eine gemeinsame Aktivität von pflegender und gepflegter Person, sie ist eine Ko-Produktion. Das absolute notwendige Mindestmaß an Kooperation durch den gepflegten Menschen ist das Zulassen der pflegerischen Hilfe. Pflegende kennen die Situationen, in denen diese Mindestvoraussetzung fehlt, und die Hilfe aufgrund von Ablehnung scheitert. Die Grundlage für funktionierendes Zusammenwirken ist eine professionelle Beziehung, die zumindest so viel Vertrauen schafft, dass die Hilfe angenommen und akzeptiert werden kann. Ohne tragfähige Beziehung kommt es rasch zur Ablehnung von Unterstützung, Abwehr durch aggressives Verhalten oder zur Anwendung von Zwang.
Damit die individuelle Abstimmung der Pflege durch Teams gewährleistet werden kann, braucht es eine individuelle Pflegeplanung und -dokumentation als professionelles Kommunikationsmittel.
Die qualifizierte Durchführung medizinischer Interventionen auf Basis ärztlicher Anordnungen ist also nur ein Teilbereich des Aufgabenfeldes in der Gesundheits- und Krankenpflege.

Schlussfolgerungen für die Pflegepolitik

In der Pflegepolitik stellt sich die Frage, wo objektive, vergleichbare Kriterien für Leistungsansprüche notwendig sind und wo hohe individuelle Abstimmung zählt.
Überall dort, wo es um gleiche Ansprüche in vergleichbaren Situationen geht, braucht es ein geeignetes Messinstrument, mit dem ein objektiver Selbstpflegestatus erhoben wird. Der Selbstpflegestatus beschreibt den Grad der eigenständig möglichen Selbstpflege anhand vergleichbarer pflegefachlich definierter Kriterien. Das ist etwa für die Zuerkennung von Ansprüchen auf Pflegegeld oder für finanzielle bzw. versicherungsrechtliche Unterstützungen pflegender Angehöriger wichtig.
Doch ein gemessener Selbstpflegestatus führt nicht automatisch zu einem vordefinierbaren Bedarf an konkreten Pflegeleistungen. Pflegebedürftigkeit ist das Resultat eines Aushandlungsprozesses mit vielen Einflussfaktoren. Welche Unterstützung wird nachgefragt? Welche wird angeboten? Die persönlichen Ziele und Ansprüche pflegebedürftiger Menschen sind auch bei vergleichbarem Selbstpflegestatus sehr unterschiedlich. Damit Pflege hilfreich und akzeptabel ist, braucht es Personen-Orientierung und gemeinsame Entscheidungsfindung. Und das führt zu individuell variierenden Pflegediagnosen und -zielen und damit zu unterschiedlichen Sachleistungspaketen.
Deshalb benötigen diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen Spielraum für fachlich begründete Unterschiede im Pflegeaufwand bei Menschen mit vergleichbarem Selbstpflegestatus. Mediziner*innen wird vertraut, dass sie sinnvolle professionelle Entscheidungen bei der Diagnostik und Therapie von Krankheiten treffen. Die Gesellschaft sollte dieses Vertrauen auch den professionell Pflegenden bei Fragen des Pflegebedarfs entgegenbringen.
Damit Pflege fachgerecht mit guter Qualität erbracht werden kann, müssen auch die Personalbemessungsmethoden das Wissen über Wesen, Ziel und Aufgabe der Gesundheits- und Krankenpflege abbilden. Nur so kann die Arbeitszeit für zentrale Leistungen, wie Beziehungsaufbau und -erhaltung, gemeinsame Entscheidungsfindung, Abstimmung der Interventionen auf individuelle Erfordernisse, insbesondere bei Tempo und Zeitpunkt der Interventionen, aber auch für fachlichen Austausch und Angehörigenarbeit entsprechend Berücksichtigung finden.

Hinweis: Ausführlicher Text und Literatur unter
https://wien.arbeiterkammer.at/pflegebedarf

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Zur Person

Mag. Kurt Schalek
Tätig in der Arbeiterkammer Wien, Abt. Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik
Diplomstudium der Soziologie sowie der Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien; Trainer für Deeskalations- und Sicherheitsmanagment im Sozial- und Gesundheitwesen; Autor von Fachbüchern zu Pflegeprozess und Pflegediagnostik; Durchführung von Seminaren

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