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Angelika Feichtner
Assistierter Suizid in Österreich - erste Erkenntnisse aus ASCIRS

Seit einem Jahr gilt das österreichische Sterbeverfügungsgesetz, das es schwerkranken erwachsenen Personen ermöglicht, ihrem Leben durch die Einnahme eines tödlichen Mittels ein Ende zu setzen. Die errichteten Sterbeverfügungen werden im Sterbeverfügungsregister    erfasst. Von Seiten des Bundesministeriums waren weder ein detailliertes Monitoring, noch eine Analyse der praktischen Erfahrungen mit dem assistierten Suizid vorgesehen.

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Deshalb hat die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) mit ASCIRS eine Online-    Meldeplattform errichtet. Dort können Berichte über Anfragen um Beihilfe zum Suizid, über           abgebrochene Suizide und über durchgeführte assistierte Suizide eingereicht werden. Die        Berichte erfolgen anonym.

Die 85 bisher eingereichten Berichte (Stand 16.01.2023) betreffen 60 Anfragen um Beihilfe zum Suizid, zwei abgebrochene Suizide und 23 vollendete assistierte Suizide. In den meisten Berichten geht es um Patient*innen mit Tumorerkrankungen oder mit neurologischen Erkrankungen. Das Alter der Patient*innen liegt zwischen 43 und 97 Jahren.

Der bei weitem häufigste Grund für den Wunsch nach assistiertem Suizid ist das erlebte Leid, insbesondere existenzielles Leid. Das am zweithäufigsten genannte Motiv sind unzureichend behandelte körperliche Symptome der Erkrankung.

Unerträgliche körperliche Symptome waren in mehr als drei Viertel der durchgeführten         assistierten Suizide ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung

Den Ängsten, den belastenden Symptomen und dem erlebten Leid kann durch eine umfassende und adäquate Palliativbetreuung wirksam begegnet werden. Derzeit haben aber längst nicht alle Patient*innen, die einen Bedarf an palliativer Versorgung haben, Zugang zu Palliative Care.

Als Mittel für den assistierten Suizid wurde vom Gesundheitsministerium Natrium-Pentobarbital festgelegt. Bei den meisten assistierten Suiziden ist der Tod innerhalb weniger Minuten eingetreten. In einer Meldung wird berichtet, dass es mehr als zwanzig Minuten bis zum Versterben dauerte, in zwei weiteren Fällen betrug die Zeitspanne bis zum Eintritt des Todes mehr als vier Stunden.

Der Sterbe-ort war, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, der private Bereich. Die meisten assistierten Suizide erfolgten im häuslichen Umfeld. In drei Fällen fand der Suizid in einem Pflegeheim statt, in einem Fall in einem Hospiz.

Belastung für Angehörige

Laut den ASCIRS-Berichten, waren bei fast allen assistierten Suiziden die Angehörigen oder Bezugspersonen der Patient*innen anwesend. Nur in einzelnen Fällen waren zusätzlich Ärzt*innen oder Pflegepersonen präsent. Laut Gesetz ist die Anwesenheit eines Arztes oder einer Ärztin nicht erforderlich, damit wird den hilfeleistenden Personen, in den meisten Fällen sind das die Angehörigen, jedoch eine enorme Last aufgebürdet. Sie sind in der Situation weitgehend auf sich allein gestellt. Treten Komplikationen auf, kann dies eine äußerst belastende Erfahrung für sie sein.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Angehörige und Bezugspersonen der Patient*innen eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung zum assistierten Suizid spielen, einerseits bei den organisatorischen Vorbereitungen und andererseits bei der Umsetzung des Suizides.

Ein assistierter Suizid ist daher niemals nur ein individueller Akt, er hat immer auch soziale Konsequenzen für das Umfeld. Die emotionalen Folgen für die Angehörigen nach einem assistierten Suizid sind mit denen eines Suizids vergleichbar (Wedler, 2017). Ihr Leben wird sich durch diese Erfahrung nachhaltig verändern. Ein assistierter Suizid kann für die Angehörigen verstörend, schambesetzt und mit Schuldgefühlen behaftet sein. Darauf weist auch die Tatsache hin, dass viele der hinterbliebenen Angehörigen ihrem Umfeld die besonderen Umstände des Todes verschweigen. Ob es nach dem assistierten Suizid zu einer erschwerten Trauer kommt, hängt von den Umständen des Sterbens ab und auch davon, wie der Abschied gestaltet werden konnte.

Eine besondere Problematik ergibt sich, wenn Kinder als Angehörige einen assistierten Suizid in der Familie erleben. Abhängig vom Alter des Kindes stellt sich dann die Frage, ob und wie dem Kind vermittelt werden soll, dass der Tod der Mutter, des Vaters oder eines Großelternteils bewusst initiiert wurde.

         Gender-Perspektive

         Betrachtet man die bisher vorliegenden ASCIRS-Berichte aus der Gender-Perspektive, fällt        auf, dass sowohl die Anfragen, wie auch die umgesetzten assistierten Suizide deutlich mehr    Frauen als Männer betreffen. Das deckt sich mit den internationalen Forschungsergebnissen    und mit den Statistiken aus anderen Ländern. Für Frauen bestehen tatsächlich deutlich     höhere geschlechtsspezifische Risiken hinsichtlich des assistierten Suizids.

         Es sind mehrere Faktoren dafür ausschlaggebend, wie etwa, dass viele Frauen aufgrund der     höheren Lebenserwartung verwitwet sind und daher häufiger unter Einsamkeit leiden. Sie          haben auch ein höheres Risiko für Altersarmut. Frauen bekommen nachweislich weniger          soziale Unterstützung als Männer und Frauen nehmen sich häufiger als Last für andere wahr,            wenn sie Hilfe brauchen.

Selbstbestimmt und in Würde?

Der assistierte Suizid wird oft als autonome und selbstbestimmte Entscheidung dargestellt. Aber die Berichte auf ASCIRS zeigen eindrucksvoll, dass das Schlagwort vom „selbstbestimmten Sterben“ nicht der Realität entspricht. Der Entschluss zum assistierten Suizid ist kaum eine selbstbestimmte, rationale, bilanzierende Entscheidung. Es ist vielmehr eine Entscheidung, die aus tiefer Not, aus Angst, Verzweiflung und aus intensiver Leiderfahrung heraus getroffen wird. Wenn Menschen in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich zu töten, kann nicht von einer freien Entscheidung gesprochen werden. Es ist daher wichtig zu verstehen, dass es beim assistierten Suizid weniger um einen autonomen Akt persönlicher Freiheit geht und auch weniger um Selbstbestimmung oder um das Recht den Zeitpunkt des Todes zu wählen. Es geht vor allem um Ängste, um Leid und sehr oft auch um palliativmedizinische Unterversorgung.

Oft wird im Zusammenhang mit assistiertem Suizid der Begriff des Sterbens in Würde strapaziert. Damit wird suggeriert, dass nur durch assistierten Suizid ein würdevolles Sterben möglich sei. Alle in die Betreuung involvierten Personenschw erkranker und sterbender Menschen wissen, dass das nicht den Tatsachen entspricht. Wir wissen, wie viel eine achtsame, respektvolle und palliativmedizinisch kompetente Betreuung zum Erhalt der Würde, auch bei schwerer Erkrankung und bei Pflegebedürftigkeit, beitragen kann.

Durch eine umfassende palliative Versorgung können belastende Symptome der Erkrankung in etwa 95% der Fälle zufriedenstellend gelindert werden. Den assistierten Suizid als Lösung für das Leid am Lebensende darzustellen, als einen raschen und sanften Tod, ist eine Täuschung. Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass der assistierte Suizid keineswegs

immer ein unkompliziertes Sterben bedeutet. Komplikationen, wie Erbrechen, Krampfanfälle oder auch deutlich verlängerte Sterbeprozesse sind nicht selten.

Wie hat das Sterbeverfügungsgesetz die Praxis verändert?

Positiv zu erwähnen ist, dass die Sensibilität für Sterbewünsche zugenommen hat. Das Wissen, dass Sterbewünsche bei schwerer Erkrankung eine normale Reaktion sind, dass diese Wünsche situationsabhängig und nur selten anhaltend sind, und dass sie auch Ausdruck des Bewältigungsprozesses sein können – dieses Wissen hat deutlich zugenommen.

Das österreichische Sterbeverfügungsgesetz ist ohne entsprechende Vorbereitung der Praxis Inkraft getreten. Das hat zu viel Unsicherheit und auch zu sehr schwierigen Situationen bei den betroffenen Gesundheitsberufen geführt. Ein wesentlicher Teil der Unsicherheit ist der Tatsache geschuldet, dass viele Dienstgeber*innen ihren Mitarbeiter*innen keine klaren Handlungsrichtlinien zum Umgang mit Anfragen um Suizidbeihilfe zur Verfügung gestellt haben – und auch bis heute ihrer diesbezüglichen Verpflichtung nicht nachgekommen sind. Ein Statement, wie „wir machen so etwas nicht“ reicht nicht aus!

Wenn die Leitung einer Organisation ihre Verantwortung nicht wahrnimmt und ihren Mitarbeiter*innen keine Handlungsanleitungen zu Anfragen um Suizidbeihilfe zur Verfügung stellt, besteht die Gefahr, dass Mitarbeiter*innen aufgrund ihrer jeweiligen persönlichen Haltung entscheiden und handeln. Damit wird die Problematik individualisiert, die Last wird der jeweiligen Person aufgebürdet, oft mit erheblichen Folgen für sie.

Jede Beihilfe zum Suizid setzt voraus, dass die Helfenden sich in gewisser Weise mit der suizidwilligen Person identifizieren und deren Leben auch nicht mehr für lebenswert erachten, denn nur, wenn sie – wie der Patient oder die Patientin – diesem Leben keinen Wert mehr beimessen, können sie die Suizidbeihilfe mit ihrem Gewissen vereinbaren (Küchenhoff & Teising, 2022).  Die Bereitschaft einen assistierten Suizid zu unterstützen, ist meist eine emotional gefärbte, moralisch begründete Entscheidung aufgrund der Nicht-Aushaltbarkeit der Situation. Es kommt zu einer Identifikation und die Beendigung unerträglich gewordenen Leidens kann dann als moralische Rechtfertigung für eine Unterstützung beim assistierten Suizid gedeutet werden.

In vielen Teams kommt es zu Spannungen und Konflikten, weil Uneinigkeit darüber besteht, wie weit die Unterstützung von Patient*innen mit Wunsch nach Suizidassistenz gehen kann. Mitunter wird schon die Beratung der Patient*innen fälschlich als Beihilfe eingestuft. Aus rechtlicher Sicht stellen Informationsgabe, Aufklärung und Beratung der Patient*innen und auch die Feststellung der Entscheidungsfähigkeit keine Beihilfe zum assistierten Suizid dar.

Es gilt auch die Verordnung des Präparates und der Begleitmedikation im Rahmen der ärztlichen Gespräche nicht als Beihilfe. Als Beihilfe zum Suizid gewertet wird zum Beispiel die Beschaffung des Suizidmittels aus der Apotheke, oder auch das Legen einer intravenösen Leitung oder einer Magensonde.

Wenn innerhalb eines Teams unterschiedliche Haltungen hinsichtlich der Unterstützung von Patient*innen mit einem Wunsch nach Suizidassistenz bestehen, kann das zu beträchtlichen Konflikten mit Abwertungen der jeweils anderen Sichtweise führen. Es ist zu respektieren, wenn Kolleg*innen sich dafür entscheiden, einen Patienten oder eine Patientin beim assistierten Suizid zu unterstützen – vorausgesetzt, es steht im Einklang mit den Vorgaben der Institution. Ebenso muss aber auch die Ablehnung der Beihilfe, aus welchen Gründen auch immer, respektiert werden.

Die ethische Frage um die Zulässigkeit der Suizidbeihilfe hat zweifellos das Potenzial, ein Team zu spalten. Zugleich kann die gemeinsame vertiefende Auseinandersetzung mit dem ethischen Spannungsfeld, das durch die Legalisierung der Beihilfe zum Suizid entstanden ist, aber auch dazu beitragen, den Zusammenhalt im Team zu stärken.

Das derzeit größte Problem ist die Überforderung vieler Palliativteams. Die Beratung und Betreuung von Patient*innen mit einem Wunsch nach assistiertem Suizid braucht viel Zeit, was eine zusätzliche Herausforderung für die ohnehin bereits überlasteten

Palliative Care-Teams darstellt. Mehrere Palliativ-Teams berichten, dass sie die reguläre Betreuung oder die Qualität der Betreuung ihrer Patient*innen nicht mehr aufrechterhalten können,  weil sie sehr viel Zeit für Anfragen rund um den assistierten Suizid aufwenden müssen. Das führt nicht nur zu Unmut auf Seiten der Betreuenden, sondern auch zu moralischem Stress.

Zudem geraten Palliativmediziner*innen durch die für eine Sterbeverfügung erforderliche palliativmedizinische Beratung suizidwilliger Patient*innen in einen besonderen Werte-Konflikt, da ein Grundsatz von Palliative Care lautet, dass das Leben und auch das Sterben weder künstlich verlängert, noch verkürzt werden soll.

Die Menschen haben Angst vor dem Leid am Lebensende

 

Mit Blick auf die prekäre Situation in der Pflege, insbesondere in der Altenpflege, sowie auf den zunehmenden Personalmangel im Gesundheitsbereich, ist zu erwarten, dass die Entscheidung zum assistierten Suizid künftig auch aufgrund unerträglicher Rahmenbedingungen in der Versorgung erfolgen wird.

Der Zugang zu Palliative Care ist ein international verankertes Menschenrecht (Rosa et al, 2021): Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Selbstbestimmung am Lebensende, müssen wir zuallererst dafür sorgen, dass allen schwerkranken Menschen – in allen Betreuungskontexten – das Angebot einer palliativen Versorgung zur Verfügung steht. Vermutlich wird es auch dann noch vereinzelt Patient*innen geben, die sich für einen assistierten Suizid entscheiden. Aber die Entscheidung zum Suizid muss dann nicht mehr getroffen werden, weil Symptome unzureichend behandelt wurden oder weil die Menschen sich in ihrer Angst und in ihrem Leid allein gelassen fühlen.

ASCIRS

Eine gründliche Analyse der Erfahrungen mit dem assistierten Suizid ist wichtig, um daraus zu lernen, wie Patient*innen, ihre Angehörigen und auch die professionell Betreuenden besser unterstützt werden können. Die Berichte auf ASCIRS sind ein wertvoller Beitrag dazu.

Wir danken allen, die ihre Erfahrungen auf dieser Plattform mitgeteilt haben!

Und wir hoffen, dass Sie uns mit weiteren Berichten helfen, unsere Erkenntnisse über die Praxis des assistierten Suizids in Österreich zu erweitern:  www.ascirs.at

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Literatur

Küchenhoff, J., Teising, M. (Hrsg.) (2022). Sich selbst töten mit Hilfe Anderer Kritische Perspektiven auf den assistierten Suizid. Psychosozial Verlag.

Rosa, W. E., Ferrell, B. R., Mason, D. J. (2021). Integration of Palliative Care Into All Serious Illness Care as A Human Right. JAMA Health Forum, 2(4), e211099. https://doi.org/10.1001/jamahealthforum.2021.1099

Wedler, H. (2017). Suizid kontrovers: Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft (1. Auflage). Verlag W. Kohlhammer.

Zur Person

Angelika Feichtner MSc (Palliative Care), DGKP

langjährige Pflege- und Lehrtätigkeit im Bereich von Hospizarbeit und Palliative Care, Mitglied der Ethik-Gruppe der Österreichischen Palliativgesellschaft, Fachbuch-Autorin.

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