An dieser Stelle sollte ein Plädoyer über den Atem in Stresszeiten publiziert sein. Man kann es bereits ahnen. Es kam anders als gedacht. Und: Ich reagierte auf den akut ausgelösten Stress wie gewohnt. Baff, da war meine körperliche Reaktion auf den bemerkten Verlust. Negative Emotion, kreisende Gedanken und stockender Atem waren klare Stresszeichen. Die eigene Homöostase geriet in Unordnung. Was geschieht, wenn wir in Stress hineinschlittern? Ist die Atmung ein zuverlässiger Parameter für die Befindlichkeit?
Stressige Situationen lassen sich per se nicht vermeiden. Als ich bemerkte, dass mein Laptop im Zugabteil allein in Richtung Zürich weiterfuhr, empfand ich in Sekundenschnelle Stress. Nebst tendenziös negativer Betrachtungsweise wurde mir meine schnelle, oberflächliche Brustatmung bewusst. Gedanken, Gefühle und Körperfunktionen korrespondieren sofortig miteinander. Es besteht eine dynamische Wechselbeziehung innerhalb des ineinandergreifenden Ganzen. Die ergotrope Wirkung des Sympathikus reagiert unmittelbar auf die intensiven Emotionen und Gedanken. Dadurch ermöglicht es die Leistungsbereitschaft des Körpers; es schaltet auf Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Das Spannungsverhältnis verschiebt sich zugunsten des sympathischen Nervensystems.
Der entgegen wirkende Parasympathikus beruhigt. Beide Teile des vegetativen Nervensystems können nicht ohneeinander sein; sie bedingen einander. Normalerweise arbeiten sie gut zusammen. Problematisch wird es erst dann, wenn der Sympathikus dauernd alleine arbeitet. Dieses Phänomen ist als chronischer Stress bekannt. Gesteigerte Atemfrequenz, oberflächliche Atemzüge mit verkürzten Atempausen sind deutliche Zeichen. Das übliche 500 Milliliter (ml) Atemvolumen senkt sich unter Stress auf etwa 250 ml pro Atemzug.
Ein Blick auf die aktuelle Forschung zeigt, dass die dauerhafte Mühsal uns nicht gut bekommt. 2020 haben die Autor*innen S. Kramer, R. Augsburger, M. Haeck und A. Maercker erstmals in ihrer klinischen Studie die erhöhte psychische Belastung des Personals einer Schweizer Klinik mit eindrücklichen Zahlen bestätigt. So sind 15% der befragten 100 Fachpersonen an einer Depression und 8% an einer Anpassungsstörung erkrankt. Gemäß den Autor*innen ist das Pflegefachpersonal besonders gefährdet. Bei den betroffenen Menschen ist der Sympathikus kontinuierlich aktiv, was zu einem hohen Kortisolspiegel führen kann. Sichtbar wird die langfristige Belastung in Form von Erschöpfung, Schlafstörungen oder Rastlosigkeit. Die eingangs formulierte Frage kann demzufolge klar beantwortet werden: Der chronische Stress führt zu vielfältigen, medizinisch bekannten Störungsbildern. Unser Handlungsvermögen ist ebenfalls eingeengt. Wir handeln unter Stress deutlich weniger zielgerichtet.
Nun drängt sich die Frage auf, wie wir mit langandauernden Belastungen umgehen. Da Körper und Psyche eine Konnexion bilden, besteht die Möglichkeit, über den Organismus den Parasympathikus effektiv zu beeinflussen. Ein sinnvoller Zugang zur Entspannung sind die Sinne, das Riechen und das Fühlen. Der Duft erreicht ungehindert die Amygdala und wirkt dort beruhigend auf das limbische System ein. Vereinfacht gesagt, ätherische Öle, wie Weisstanne oder Fichtennadel, es sind Basisnoten, wirken beruhigend auf den Parasympathikus.
Ein anderer Sinneszugang verläuft über das Fühlen. Über den Atem ist dies bestens machbar. Jeder von den etwa 20 000 Atemzügen pro Tag hat einen Einfluss auf die körperliche Befindlichkeit.
In der Umkehr bedeutet dies, dass jede Veränderung der Atmung auch unsere Seele berührt. Aufgrund dessen hat der Atem unweigerlich eine therapeutische Seite. Als Instrument bietet sich die Beobachtung der eigenen Person sowie das Nachspüren an. Zweck der Selbstwahrnehmung ist das bewusste Wahrnehmen der gegenwärtigen Befindlichkeit. In-sich-Gehen, als Achtsamkeit bekannt, propagierte bereits I. Middendorf 1987. Sie schrieb dazu: «Wir lassen unsern Atem kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wiederkommt» (Middendorf 2007: S.19). Der Fokus liegt dabei auf dem Zulassen und das Loslassen des Atems. Nicht das Einatmen ist hier der zentrale Punkt, sondern das Ausatmen, gefolgt von der Atempause. Die Ruhephase zwischen Aus- und Einatmung gestattet einen Einblick in unsere gegenwärtige Seelenlage. Dadurch hat die Atempause zugleich eine spirituelle Ebene.
Wie kommen wir nur in die gewünschte Entspannung, zum erstrebten Ausgleich? Der Effekt basiert auf dem langsamen und langen Ausströmen des Ausatmens. 4711 (nicht das kölnische Wasser), ist eine der Atemübungen, welche genau dieses Phänomen des langsam ausströmenden Ausatmens nutzt. Man atmet 4 Sekunden durch die Nase ein, gefolgt von 7 Zeiteinheiten des langsamen Ausatmens. Die 11 steht für die Dauer in Minuten. Nachspüren ist elementar wichtig bei der Atemarbeit, um die Wahrnehmung zu schulen.
Als eine andere erbauliche, jedoch verpönte Reaktion, sehe ich das hemmungslose Gähnen an. Gähnen ist ein intensiver Atemimpuls mit belebender Wirkung, erwähnte vor einiger Zeit der Atemlehrer P. Cubasch. Wenn das Gähnen nicht von selbst kommt, dann kann es durchaus provoziert werden. Tun Sie also so, als würden Sie gähnen, auch wenn es sich nicht danach anfühlt. Sich genüsslich in alle Richtungen dehnen, löst oft ein Gähnen aus. Dabei ist das belebende Gefühl noch zentral.
Die dritte einfach anmutende Atemübung ist folgende: Legen Sie eine Hand auf die Brust und beobachten Sie die wellenförmige Atembewegung. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf den Atem, sobald die Gedanken abschweifen. Wo spüren sie den Atem? Ist Ihr Atem zögerlicher oder fließend? Spüren sie Ungeduld oder Ruhe? Wenn Sie ungeduldig sind, weshalb? Es sind diese und ähnliche Fragen, die durch Selbstzuwendung Platz erhalten.
Chronischer Stress, so der allgemeine Konsens, ist ein weitverbreitetes Phänomen in den industrialisierten Staaten. Die Symptompalette reicht von Schlaflosigkeit, muskulärer Verspannung, Schmerzsyndromen bis zu Depression. Die Psyche und der Körper leiden gleichermaßen unter der chronischen Belastung. Damit geht der chronische Stress uns alle etwas an. Es braucht einen adäquaten Umgang damit. Daher sind die beschriebenen Übungen mehr als nur ein Trend. Das Auseinanderzusetzen mit sich selbst macht das Reflektieren möglich. «Was in uns rumort», wurde die Philosophin I. Schmidt im Geo Magazin zitiert, ermöglicht uns, «aufwallende Emotionen zu erkennen» (Geo 2020: S. 65).
Entspannung erkennt man an der Bauchwölbung, bei der Einatmung und der reduzierten Atemfrequenz auf 6 Atemzüge pro Minute. Die Körperspannung ist gelöst, sichtbar an den gelösten Schultern. Atemzentrierte Übungen und Essenzen haben zweifelsfrei einen positiven Einfluss auf unsere Homöostase. Sie stärken unsere Selbstregulation und Selbstfürsorge.
Der im Zug vergessene Laptop kam bis zur Fertigstellung des Essays nicht zurück. Nichtsdestotrotz hat sich mein Atem aufgrund der Selbstfürsorge normalisiert.
Zudem sind körperorientierte Methoden immer gegenwartsbezogen. Es erscheint mir noch wichtig, weil wir nur die Gegenwart aktiv gestalten können. Vielleicht hört es sich paradox an, aber die achtsamen Stopps im Alltag rauben keineswegs Zeit, das Gegenteil ist der Fall. Der Atem ist nicht nichts, sondern das Wesentliche.
Cubasch, P. (2016). Gähnen – der natürliche Weg zu Entspannung und Wohlbefinden. Wien
Derksen, A., Schmidt, I. (2020). Fünf Wege zur mehr Gelassenheit. Geo Magazin, Ausgabe 08,
2020, Hamburg
Krammer, S., Augstburger, R., Haeck, M., & Maercker, A. (2020). Anpassungsstörung, Depression, Stresssymptome, Corona bezogene Sorgen und Bewältigungsstrategien während der Corona Pandemie (COVID-19) bei Schweizer Klinikpersonal. Psychother Psychosom Med Psychol, 70(7), 272-282. doi:10.1055/a-1192-6608
Middendorf, I. (2007). Der erfahrbare Atem, Eine Atemlehre. Paderborn: Junfermann.
www.atem-und-duft.ch, atem.und.duft@gmail.com
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