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Michael Weber
Bedürfnisse im Wandel – Mutige Wege zu mehr Autonomie und Selbstbestimmung in der Pflege

Unsere Gesellschaft ist im Umbruch. Veränderte Familienstrukturen, kulturelle Prozesse wie Individualisierung, das Zusammenleben von Generationen die unterschiedlicher kaum sein könnten und ein rasanter demographischer  Wandel. Für die Pflege und Betreuung von Menschen im Alter stellt der wachsende Mangel an Fachkräften noch eine weitere Herausforderung dar. Konzepte wie „mobil vor stationär“ sind ohne nachhaltige Reformen nicht wirksam. Investitionen in neue Technologien werden ebenso wenig reichen, wie die nächste, auf die Sinnhaftigkeit des Berufsbildes abzielende Imagekampagne. Es reicht nicht einzelne Stellschrauben zu drehen. Um die Pflege bedarfsgerecht und zukunftsfit aufstellen zu können, sollten die durch zersplitterte Kompetenzen zwischen Bund und Ländern ineffizienten Finanzierungsströme gebündelt werden und neue mutige Wege  hin zu mehr Autonomie und Selbstbestimmung beschritten werden. Entsprechende Finanzierunglogiken und Betreuungsmodelle liegen bereits vor. Ein Denkanstoß zum Paradigmenwechsel.

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Hohe Lebenserwartung – wie stellen wir uns das vor?

Seit 1980 ist die Lebenserwartung bei Geburt in Österreich um 9 Jahre gestiegen und stellt – Stand 2019 – Männern im Durchschnitt 79, Frauen 84 Lebensjahre in Aussicht. Die Altersverteilung zeigt bereits heute, dass ältere Menschen in der Überzahl sind und der Anteil der über 65-Jährigen seit Jahrzeiten kontinuierlich wächst. Wir befinden uns also bereits mitten in einer Gesellschaft des langen Lebens. Die Zukunft gehört „den Alten“.

Die Zunahme der Lebenserwartung stellt einen positiven Fortschritt für unsere moderne Gesellschaft dar. Dennoch werden ältere Menschen im öffentlichen Diskurs häufig als Last und Problem betrachtet. Die demografische Veränderungen sollte aber vielmehr als Gelegenheit erkannt werden. Es ist wichtig, Maßnahmen zu ergreifen, die sowohl ältere Menschen als auch nachfolgende Generationen berücksichtigen und in den Prozess einbeziehen. Eines dürfen wird  bei unserem Bild vom Alter(n) nämlich nicht vergessen: wenn wir Glück haben, betrifft uns das alle früher oder später selbst.

Bedürfnistrend:  „Die Alten“ von morgen erwarten mehr

Eine bedeutende Größe im demographischen Wandel, sind die als Baby-Boomer bekannten geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er Jahre. Baby-Boomer haben andere Werte und Präferenzen, vielfältigere Lebensstile und andere Visionen für ihre späteren Lebensabschnitte als bisherige Generationen. Viele sind es gewohnt, Dienstleistungen als Kunden in Anspruch zu nehmen, und sind entsprechend selbstbewusst, anspruchsvoll und kritisch. Betreuungs- und Pflegeanbieter müssen auf diese Veränderungen reagieren. (Wanka, 2019)

Wir erleben aber nicht nur eine Emanzipation des Alters. Die Generation Z (geboren zwischen den Jahren 1995 und 2010) ist – ganz im Gegensatz zu den Baby-Boomern – in einer Welt voll Unbeständigkeit und Unsicherheit aufgewachsen, was dazu führt, dass die „Gen Z“ viel stärker im Moment lebt, ihre Bedürfnisse klar artikuliert und Flexibilität in vielen Bereichen des Lebens fordert.

Der Bedürfnis- und Individualisierungstrend der Baby-Boomer wird sich also auch in den nächsten Jahrzehnten steil fortsetzen.

Eine grundlegende Systemdebatte über Sorgeleistungen für Menschen im Alter ist demnach für eine an den tatsächlichen Bedürfnissen orientierte, zukunftsfitte Dienstleistungsentwicklung, unerlässlich. Eine Debatte über Maßnahmen, die sowohl Menschen im Alter als auch nachfolgende Generationen, die Gesellschaft als Ganzes im Blick haben. Was es braucht, ist die Stärkung der Autonomie und Wahlfreiheit und eine damit verbundene Anpassung der Dienstleistungsangebote.

Sorge als familiäre Aufgabe – alternativlos?

Selbst wenn der Alltag, bedingt durch Alter und Krankheit schwerer wird, wünscht sich der Großteil der Bevölkerung so lange wie möglich, zu Hause im gewohnten Umfeld  leben zu können. Dieser Wunsch (zumal ökonomisch sinnvoll) darf nicht ignoriert werden und bedarf sowohl politischer als auch gesamtgesellschaftlicher Unterstützung. Die Bedürfnisse der Menschen müssen dabei immer im Mittelpunkt stehen. Daher ist es unbedingt notwendig, Kund:innen und Angehörige strukturiert in die Dienstleistungsentwicklung einzubeziehen. Sprich die Frage ist: welche Dienstleistungen brauchen wir, um zuhause gut alt werden zu können? Das österreichische Pflegesystem liefert in seiner aktuellen Form keine Antworten auf diese veränderten Bedürfnisse. Organisatorisch basiert die (formelle) Pflege im Wesentlichen auf zwei starren Säulen: Mobil und Stationär. Andere, an den individuellen Bedürfnissen der pflegebedürftigen Personen orientierte und für pflegende Angehörige entlastende Angebote sind nur sehr begrenzt verfügbar oder nicht leistbar.

Stellen wir uns für einen Moment eine 84-jährige Frau, mit einem Unterstützungsbedarf entsprechend der Pflegestufe 4 vor. Wie so oft ist es die Tochter, die u.a. durch eine Reduktion der Arbeitszeit die Betreuung und Pflege zu Hause gewährleistet. Eine fortschreitende Demenz führt schließlich dazu, dass die informelle Leistung der pflegenden Angehörigen nicht mehr ausreicht. Auf der Suche nach einem entlastenden Angebot stellt die Tochter fest, dass die örtliche Tagesbetreuung ausgelastet ist, eine punktuelle pflegerische Unterstützung durch mobile Betreuung nicht ausreicht und die privat zu finanzierende Kurzzeitpflege mit dem Pflegegeld (aktuell 754,00 Euro) nicht leistbar ist.

Situationen wie diese führen dazu, dass es in vielen Fällen für Personen günstiger ist, in ein Altenheim zu ziehen, als den Pflegebedarf durch eine umfassende und vielfältige Betreuung zu Hause zu decken. Wir sollten uns fragen, ob auch weiterhin das bekannte System das Angebot bestimmen soll – oder ob wir die Menschen mit Pflegebedarf dazu befähigen können. Was wir brauchen, ist die Bereitstellung leistbarer, bedarfsgerechter und flexibler Dienstleistungen und einen Paradigmenwechsel in der Finanzierungslogik – hin zu mehr Wahlfreiheit für Kund:innen. Etwa in Form eines „Autonomiebetrags“ – ein Geldwert, der zweckgebunden für soziale Leistungen eingesetzt werden kann. (Mehr dazu untenstehend).

… und so kann es gehen

Wie eine bedarfsgerechte Versorgung in Zukunft aussehen könnte, zeigt das Modellprojekt „QplusAlter“ der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg. Sogenannte Lots:innen informieren, beraten und begleiten ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf, sowie An- und Zugehörige und entwickeln gemeinsam ein individuelles Unterstützungssetting. Dabei ermöglichen sie Ressourcen aus verschiedenen Bereichen in den Blick zu nehmen und miteinander zu verknüpfen. Das dieser sozialraumorientierte Ansatz wirkt, zeigt eine wissenschaftliche Evaluation des Projekts durch die Universität Duisburg-Essen. Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten (sowohl der älteren Menschen selbst als auch der Angehörigen) haben sich während der Begleitung durch eine Lotsin nachweislich verbessert.

Seit 2022 agieren Community Nurses, ähnlich wie die Lots:innen von QplusAlter, erfolgreich in mehr als 120 Projekten in Gemeinden in ganz Österreich. Das Pilotprojekt mit einer Laufzeit von 3 Jahren spiegelt ein ähnliches Bild und zeigt Versorgungslücken auf. Doch bleibt offen, wer die individuellen Betreuungssettings finanziert, die Community Nurses gemeinsam mit den Menschen im Alter entwerfen.

Modelle für einen neue Finanzierungslogik liegen am Tisch

Mit dem Modell SING (Seniorenarbeit Innovativ Gestalten) liegt auch für Österreich ein sozialraumorientiertes Konzept vor, dass mit einer neuen Finanzierungslogik den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dabei bleibt die Pflegegeldzahlung des Bundes unangetastet. Jedoch besteht die Möglichkeit einen Teil des Pflegegelds, bezuschusst durch die öffentliche Hand, in einen höheren „Autonomiebetrag“ umzuwandeln. Dieser Wertbetrag kann ausschließlich für Sachleistungen (z.B. mehrstündige Betreuung, Besuchsdienst, Mobile Pflege) verwendet werden und ermöglicht den Menschen damit, möglichst lange zu Hause leben zu können.

Österreich ist für die demografischen Veränderungen und gesellschaftlichen Entwicklungen noch nicht ausreichend vorbereitet. Wir brauchen eine tiefgreifende, mutige und zukunftsgerichtete Pflegereform. Wahlfreiheit und Selbstbestimmung müssen dabei ebenso eine zentrale Rolle spielen, wie eine neue Finanzierung von sozialen Dienstleistungen , die bedarfsgerechte Sorge-Arrangements erst ermöglichen. Darüber hinaus sollten wir uns, im Sinne einer neuen Verantwortungskultur, als Gesellschaft darüber klar werden, dass das Thema Sorgearbeit uns alle betrifft. Warum nicht mal zum 85-jährigen Nachbarn Kartenspielen gehen?

Dieses spannende und zukunftsweisende Thema wird heuer auch bei den 27. Diakonie-Dialogen in der voestalpine Stahlwelt in Linz im Fokus stehen. Unter dem Titel „ALTERnativen – mit Blick auf ein selbstbestimmtes Leben im Alter“ präsentieren und diskutieren wir neue Lebens- und Begleitmodelle für mehr Teilhabe im Alter.

Mehr Infos unter: www.diakonie-dialoge.at

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Literatur

Anna Wanka (2019), Die Baby-Boomer werden älter – Zeitdiagnose einer außergewöhnlichen Generation. In „Die Baby-Boomer werden älter. Zukunftsperspektiven einer starken Generation“. Trendreport Land Oberösterreich. Oberösterreichische Zukunftsakademie

Das Modell SING. Abgerufen am 04.05.2023                                                                                                https://www.diakonie.at/unsere-themen/alter-und-pflege/diakonie-zur-pflegereform/sing-konzept,

Statistik Austria (2020) Lebenserwartung in Gesundheit. Abgerufen am 09.05.2023 https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/gesundheit/gesundheitszustand/lebenserwartung-in-gesundheit

Q8 Sozialraumorientierung. Eine Initiative der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Abgerufen am 09.05.2023

https://www.q-acht.net/qplus/qplusalter/projekt-wirkung.php

Zur Person

Michael Weber, DGKP

Dienstleistungsentwickler,  Kompetenzmanagement (Diakoniewerk)

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