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Claudia Dinand, Martin Berwig, Margareta Halek
Sensitiv kommunizieren mit Videofeedback
Eine Machbarkeitsstudie mit Menschen mit Frontotemporaler Demenz und ihren Angehörigen

Sensitiv mit Menschen mit Demenz kommunizieren will gelernt sein. In diesem Beitrag wird eine Machbarkeitsstudie vorgestellt, in der mit Hilfe eines Methodenmix untersucht wurde, welchen Beitrag Videofeedback als Beratungsmethode für zuhause lebende Menschen mit frontotemporaler Demenz und ihre Angehörige leisten kann. Es scheint, das Videofeedback eine vielversprechende Methode darstellt, um gegenseitiges Verstehen zu fördern und die häusliche Beziehung zu stabilisieren.

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1        Anlass und Ausgangspunkt

Miteinander kommunizieren, gegenseitiges Verstehen und Beziehungsarbeit sind zentrale und grundlegende Elemente pflegerischen Handelns (Kitson, 2018). Menschen mit Demenz verfügen häufig über spezielle Formen der Verständigung und Arten sich mitzuteilen. Diese zu entdecken und richtig zu deuten, benötigt besondere Aufmerksamkeit, einen sensitiven Zugang und kommunikative Kompetenzen, die gelernt und geübt werden können. Videofeedback ist eine Methode, das eigene Handeln im Sinne von gelingenden Interaktionen zu reflektieren. In der Machbarkeitsstudie zur „Anwendung der Marte Meo® Methode bei Menschen mit der verhaltensbetonten Variante der Frontotemporalen Demenz und ihren Bezugspersonen“ (AMEO-FTD) (Berwig et al., 2020) wurde eine Beratungsmethode mittels Videofeedback bei zuhause lebenden Menschen mit einer Unterform der frontotemporalen Demenz (FTD) und ihren Bezugspersonen, im Folgenden als Dyade bezeichnet, untersucht.

Die FTD gehört zu den seltenen und im jüngeren Lebensalter auftretenden neurodegenerativen Erkrankungen (Dinand, Berwig & Halek, 2022). Bei der im Projekt AMEO-FTD relevanten Unterform, der verhaltensbetonten Variante (engl. behavioral frontotemporal dementia, kurz bvFTD), sind neben weiteren Symptomen vor allem die sozial-kognitiven Fähigkeiten besonders früh beeinträchtigt (vgl. hier die aktuellen Diagnosekriterien: Rascovsky et al., 2011; Witt, Deuschl & Bartsch, 2013). Menschen mit dieser Form der Demenz haben daher Schwierigkeiten die Gefühle anderer wahrzunehmen und zu interpretieren und damit eine gegenseitige Verständigung herzustellen und aufrechtzuerhalten (Torralva et al., 2015). Auch führt das mitunter ungewöhnliche, grenzüberschreitende oder maßlose Verhalten zu Unverständnis und Irritation bei allen Betreuenden. In häuslichen Versorgungsarrangements kann dies schnell zu einer Überforderung der Angehörigen oder der gesamten Familie führen (Karnatz et al., 2021), weshalb in der Folge manchmal eine Betreuung zuhause nicht mehr sichergestellt werden kann. Es bietet sich in dieser Situation an Videofeedback einzusetzen, um nicht genutzte kommunikative Möglichkeiten aufzudecken, sichtbar zu machen, zu reflektieren und bewährte Verständigungsmuster weiter zu festigen, so dass die Beziehung sowie die häusliche Situation stabilisiert werden können (Gerritsen et al., 2019; O’Rourke et al., 2020). Vor dem Hintergrund bekannter unzureichender Behandlungsoptionen für Menschen mit bvFTD (Ahmed, Hodges & Piguet, 2021), stellen Maßnahmen zur Unterstützung zuhause lebender Menschen mit bvFTD und ihrer Hauptbezugspersonen eine der wichtigsten Bausteine des klinischen Behandlungsmanagements dar (Moon & Adams, 2013). Das hier vorgestellte Projekt AMEO-FTD wurde am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Witten von den Autor*innen durchgeführt. Dabei wurde die Videofeedback-Beratungsmethode nach Marte Meo® (Becker & Hawellek, 2018) zum ersten Mal bei Menschen mit bvFTD angewendet und geprüft. Sie stammt aus der Eltern-Kind-Beratung und ist mittlerweile auch in der professionellen Pflege verbreitet, wurde aber bisher noch genügend wissenschaftlich evaluiert.

2        Ziel

Ziel der Studie war es, zu prüfen, ob die Videofeedback-Beratungsmethode nach Marte Meo® bei Menschen mit bvFTD und ihren Hauptbezugspersonen nützlich und praktikabel ist. Des Weiteren sollten mögliche Effekte beschrieben und beurteilt werden, unter welchen Bedingungen eine zukünftige Studie mit größerer Reichweite sinnvoll ist.

3        Methode/Design

Bei dieser Untersuchung handelte es sich um eine interventionelle Machbarkeitsstudie, die eine Pilot-Effekt-Studie und eine Pilot-Prozessevaluation beinhaltete und sich am Rahmenwerk des Medical Research Councils zur Entwicklung und Evaluation komplexer Interventionen (MRC-Framework) (Craig et al., 2008) orientierte.

Um mögliche Effekte herauszuarbeiten (Pilot-Effekt-Studie), wurde ein quasi-experimentelles Vorher-Nachher-Design unter Anwendung eines Methodenmix ausgewählt, in das eine qualitative Veränderungsanalyse eingebettet war. Die Datenerhebung fand an drei Untersuchungszeitpunkten (t0, t1 [nach zwei Wochen] und t2 [nach sechs Wochen]) statt. An diesen Terminen wurde bei den Teilnehmenden Befragungen durchgeführt sowie zuhause durch das Forschungsteam in teilnehmender Beobachtung eine Situation aus dem täglichen Leben auf Video aufgezeichnet (Videographie) (Tuma, Schnettler & Knoblauch, 2013). Für die Vergleichbarkeit der Situation wurde eine Mahlzeiteneinnahme ausgewählt. Der erste und zweite Untersuchungszeitpunkt (t0, t1) dienten als Kontrollmessung, ohne dass eine videobasierte Beratung stattfand. Der fünfwöchige Zeitraum zwischen t1 und t2 wurde als Interventionszeitraum festgelegt, in welchem die Hauptbezugspersonen fünf Beratungssitzungen inklusive Videofeedback erhielten (siehe Abbildung). Dieses Vorgehen wurde parallel im Sinne der Machbarkeit prozessevaluativ bewertet.

Abbildung: Zeitlicher Ablauf der Datenerhebung der AMEO-FTD-Studie

3.1       Intervention

Die Intervention bestand aus einer gemeinsamen Zielabsprache mit der Therapeutin zu Beginn der Beratungssitzung, den von ihr separat aufgezeichneten Beratungsvideos von alltäglichen Interaktionssituationen der teilnehmenden Dyaden sowie einem anschließenden Feedbackgespräch. Die Beratungsgespräche fokussierten dabei auf gelingende Interaktionen, also auf Momente, in denen bereits sensitiv kommuniziert wurde. Diese wurden in Form des Videofeedbacks positiv rückgespiegelt und gemeinsam reflektiert.

3.2       Stichprobe

In die Studie einbezogen wurden insgesamt fünf Dyaden bestehend aus Menschen mit einer fachärztlich diagnostizierten bvFTD und ihren Hauptbezugspersonen. Die Studie wurde vor Beginn der Datenerhebung durch die Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP, Nr. 16.012) genehmigt.

3.3       Datenerfassung und -analyse

Für die quantitative Evaluation der Machbarkeitsstudie wurden theoriegeleitet Zielkriterien[1] formuliert, nach der Erhebung auf Veränderungen zwischen den Erhebungszeitpunkten miteinander verglichen und auf klinische Signifikanz geprüft. Bei Personen mit bvFTD wurde erfasst, ob und wie sich die Beziehungsfähigkeit durch die Intervention verändert oder sich positiv respektive negativ auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität oder auf die Häufigkeit von herausfordernden Verhaltensweisen auswirkt. Bei den Hauptbezugspersonen wurde die Feinfühligkeit, das Stresserleben durch herausfordernde Verhaltensweisen und deren Handhabbarkeit sowie die Zielerreichung eingeschätzt. Ein Ergebnisparameter für die Dyaden bezog sich darauf, wie sich die Intervention auf die Qualität der Beziehung auswirkt.

Des Weiteren wurden Interaktionsstrategien und Veränderungen im aufeinander bezogenen Handeln (Soziale Interaktion) qualitativ mithilfe der Videointeraktionsanalyse (Tuma, Schnettler & Knoblauch, 2013) herausgearbeitet bzw. evaluiert.

Im Rahmen der Prozessevaluation wurde pro Untersuchungszeitpunkt der wahrgenommene Nutzen und die Wahrnehmung des Interventionsprozesses der Hauptpflegepersonen mittels Fragebögen und Interviews deskriptiv evaluiert sowie zum Verlauf ein Interview pro Dyade mit der Therapeutin geführt und inhaltsanalytisch (Kuckartz, 2012)ausgewertet. Die durch das Studienpersonal angefertigten Feldaufzeichnungen flossen in die Analyse ein.

4        Ergebnisse

In den meisten Zielparametern lassen sich deskriptiv Veränderungen zugunsten des Interventionszeitraumes erkennen. Hinsichtlich der dyadischen Beziehungsqualität und des positiven Affekts konnten diese als klinisch sehr bedeutsam eingestuft werden.

Als Ergebnis der Videointeraktionsanalyse konnten innerhalb der Dyaden Handlungen identifiziert werden, die einen Selbstbezug aufwiesen, solche mit einseitig fokussierter oder auch gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit. Die Bezugspersonen übernahmen in der Regel die Führung für gegenseitige und gemeinsame Handlungen und wandten ermöglichende, routinierte und restriktive Strategien an, während die Personen mit bvFTD auf der körpersprachlichen Ebene interagierten. „Kontakt halten“ ist ein bedingender Faktor für eine sensitive Begegnung und ermöglicht die Wahrnehmung von Initiativen auf Seiten der Menschen mit bvFTD. Befähigende Elemente der Bezugspersonen wie „Benennen“, „Zeit und Raum geben“ oder „die Person mit bvFTD zur Teilnahme ermutigen“ sind weitere Gelingensfaktoren.

Insgesamt scheint Videofeedback eine angemessene und nützliche Beratungsmethode für die Zielgruppe zu sein. Je stärker die Hauptbezugspersonen die Demenz ihres Angehörigen akzeptierten, desto mehr profitierten sie von der Beratung. Dass Menschen mit bvFTD in das Videofeedback einbezogen werden wollten und konnten, war ein neues und wichtiges Ergebnis dieser Studie und ermutigt dazu die Beratung in Zukunft auf die Dyaden auszuweiten.

5        Schlussfolgerungen

Mit dieser Machbarkeitsstudie konnten durch die Anwendung unterschiedlicher Methoden deutliche Hinweise für die Machbarkeit und Nützlichkeit von Videofeedback für Menschen mit bvFTD und ihren Angehörigen gewonnen werden. Die Evaluation in einer groß angelegten konfirmatorischen Studie wäre daher empfehlens- und wünschenswert. Videofeedback kann als eine vielversprechende Methode angesehen werden, die die Feinfühligkeit in der alltäglichen Kommunikation trainieren und damit die Beziehungsgestaltung von Menschen mit bvFTD und ihren Hauptbezugspersonen fördern sowie deren Lebensqualität verbessern kann

[1] Alle angewandten Instrumente sind in der Open Access-Publikation zur Studie (Berwig et al. 2020) einsehbar.

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Literatur

Ahmed, R.M., Hodges, J.R., Piguet, O. (2021). Behavioural Variant Frontotemporal Dementia: Recent Advances in the Diagnosis and Understanding of the Disorder. Adv Exp Med Biol, 1281, 1-15 doi:10.1007/978-3-030-51140-1_1

Becker, U., Hawellek, C. (2018). Menschen mit Demenz erreichen und unterstützen–die Marte-Meo-Methode,  Vandenhoeck & Ruprecht

Berwig, M., Dinand, C., Becker, U., Halek, M. (2020). Application of Marte Meo® counselling with people with behavioural variant frontotemporal dementia and their primary carers (AMEO-FTD) – a non-randomized mixed-method feasibility study. Pilot Feasibility Stud, 6, 32 doi:10.1186/s40814-020-0551-1

Craig, P., Dieppe. P., Macintyre. S., Michie, S., Nazareth, I., Petticrew, M. (2008). Developing and evaluating complex interventions: the new Medical Research Council guidance. Bmj, 337, a1655. Retrieved from https://www.bmj.com/content/bmj/337/bmj.a1655.full.pdf

Dinand, C., Berwig, M., Halek, M. (2022). Menschen mit Frontotemporaler Demenz: Versorgungsbedarfe und Interventionen, In Pflege-Report 2022 (pp 155-168): Springer

Gerritsen, D.L., Koopmans, R.T., Walravens, V., van Vliet, D. (2019). Using video feedback at home in dementia care: a feasibility study. American Journal of Alzheimer’s Disease & Other Dementias®, 34(3), 153-162.

Karnatz, T., Monsees, J., Wucherer, D., Michalowsky, B., Zwingmann, I., Halek, M., . . . Thyrian, J.R. (2021). Burden of caregivers of patients with frontotemporal lobar degeneration–a scoping review. International Psychogeriatrics, 33(9), 891-911.

Kitson, A.L. (2018). The fundamentals of care framework as a point-of-care nursing theory. Nursing Research, 67(2), 99-107.

Kuckartz, U. (2012). Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung.,  Weinheim Beltz Juventa

Moon, H., Adams, K.B. (2013). The effectiveness of dyadic interventions for people with dementia and their caregivers. Dementia (London), 12(6), 821-839 doi:10.1177/1471301212447026

O’Rourke, D.J., Lobchuk, M.M., Thompson, G.N., Lengyel, C. (2020) Video feedback: A novel application to enhance person‐centred dementia communication. International Journal of Nursing Practice, 26(4), e12820.

Rascovsky, K., Hodges, J.R., Knopman, D., Mendez, M.F., Kramer, J.H., Neuhaus, J., . . . Miller, B.L. (2011). Sensitivity of revised diagnostic criteria for the behavioural variant of frontotemporal dementia. Brain, 134(Pt 9), 2456-2477 doi:awr179 [pii]10.1093/brain/awr179

Torralva, T., Gleichgerrcht, E., Torres Ardila, M.J., Roca, M., Manes, F.F. (2015). Differential Cognitive and Affective Theory of Mind Abilities at Mild and Moderate Stages of Behavioral Variant Frontotemporal Dementia. Cognitive and behavioral neurology : official journal of the Society for Behavioral and Cognitive Neurology, 28(2), 63–70 doi:10.1097/wnn.0000000000000053

Tuma, R., Schnettler, B., Knoblauch, H. (2013). Videographie: Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen Wiesbaden Springer VS

Witt, K., Deuschl, G., Bartsch, T. (2013). Frontotemporale Demenzen. Der Nervenarzt, 84(1), 20-32. Retrieved from https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00115-012-3477-x.pdf

Zur Person

Claudia Dinand, MScN, ist examinierte Krankenschwester und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke. Bis 2019 war sie am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Witten tätig.

Kontakt: claudia.dinand@uni-wh.de, +49 2303 926 225

 

Dr. rer. med. Martin Berwig ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) – Standort Witten und am Institut für Allgemeinmedizin der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg und lehrt im Bereich Allgemeinmedizin und Geriatrie.

Kontakt: martin.berwig@dzne.de

 

Prof. Dr. rer. medic. Margareta Halek ist Altenpflegerin und Professorin für Pflegwissenschaft und Leitung des Departments für Pflegewissenschaft (seit 2019) sowie Dekanin der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke (seit 2021).

Kontakt: margareta.halek@uni-wh.de, +49 2303 926 108

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