In Kürze
Die Herausforderungen unserer Welt, die uns jetzt und auch in der Zukunft alle betreffen werden, lassen sich sehr transparent mit dem Akronym VUCA beschreiben. V wie „volatility“ („Volatilität/Flüchtigkeit“), U wie „uncertainty“ („Unsicherheit„), C wie „complexity“ („Komplexität„) und A wie „ambiguity“ („Mehrdeutigkeit“). In den 1990er-Jahren wurden diese Merkmale von der US-Armee erfasst und von diversen Unternehmensberatungen und Hochschulen adaptiert (Bendel, 2019). Die Pandemie, der Krieg, die Klimakrise, die Weltwirtschaftslage, der persönliche Umgang mit Stress, Angst und Ungewissheit beschäftigt uns alle. Dies wirkt sich zwangsläufig auf unser physisches und psychisches Wohlbefinden aus. Das Thema Vulnerabilität (Verletzlichkeit) ist mit der Pandemie für alle sichtbar und erfahrbar geworden. Demografisch merken wir jetzt bereits, dass viele Menschen älter werden und dass die Zahl der chronisch erkrankten Personen zunehmen wird (BAG, 2021). Die klimatischen Lebensbedingungen stellen für uns alle eine Herausforderung dar. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet damit, dass zwischen 2030 und 2050, 250,000 Menschen jährlich, aufgrund von Malaria, Unterernährung, Diarrhö und Hitzestress sterben werden (WHO, 2021). Wir leben in einer anspruchsvollen Welt. Dennoch propagieren marktwirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen ständige Selbstoptimierung, Effizienz und Willensanstrengung. Verletzlichkeit wird dadurch leider immer noch individualisiert und als persönliche Schwäche ausgelegt. Seit der Pandemie wurde die Pflege als systemrelevant erkannt. Der Personalnotstand und die Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung werden im Sinne einer mangelnden Effizienz seitdem diskutiert. Inhaltlich und strukturell ist der Wert der professionellen Pflege im gesellschaftlichen Diskurs aber leider immer noch unsichtbar. Welches Menschenbild vermittelt der Kapitalismus und welches Menschenbild vertritt die Profession Pflege? Gibt es Überschneidungen, eventuell Gemeinsamkeiten oder lassen sich diese Bereiche nicht miteinander vergleichen? Der folgende Artikel stellt Fragen und soll Verknüpfungen aufzeigen, inwiefern das Menschenbild, das wir alle in uns tragen, unsere Wahrnehmung und unser Verhalten prägen. Welche Folgen können entstehen oder sind bereits entstanden, wenn menschliche Annahmen und Überzeugungen an kapitalistischen Werten gemessen werden?
Das Menschenbild
In der Sozialpsychologie bildet das Menschenbild die Gesamtheit der Annahmen und Überzeugungen darüber, was der Mensch von Natur aus ist. Das heißt, wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele sein Leben hat oder haben sollte (Wikipedia, 2023).
Die Überlegung, wer wir sind und was wir hier machen, ist seit den Anfängen des Menschen eine grundlegende philosophische und theologische Frage. Die Kirche hatte diesbezüglich über Jahrhunderte eine Vormachtstellung. Erst mit der Aufklärung vor circa 200 Jahren begann sich dies zu verändern. Die Entstehung der Welt, der Natur und somit auch zwangsläufig des Menschenbilds wurde durch das Wissen der Aufklärung in Frage gestellt. Später veränderte Charles Darwin mit seinem Buch „Über die Entstehung der Arten“ (1859) die öffentliche Wahrnehmung. Die Evolutionstheorie war mit der biblischen Geschichte der Schöpfung nicht mehr vereinbar. Zudem bezog sich Darwin zunächst auf verschiedene Grundannahmen, die den Blick auf den Menschen und das Zusammenleben noch heute stark beeinflussen. Als zentrale Thesen benannte Darwin den „war of nature“ (Krieg der Natur) und den „struggle of life“ (Kampf ums Überleben). Dies betraf die Aussonderung der schwächsten Arten sowie das Überleben der stärksten Lebewesen (Bauer, 2006). Die Bezeichnung „survival of the fittest“ wird heute noch oft fälschlicherweise als das Überleben des*der Stärkeren übersetzt. Es bedeutet jedoch, dass die am besten angepassten Individuen überleben (Von Westphalen, 2019).
Anthropologische Vorstellungen beeinflussen nicht nur das Selbstbild, sondern auch wie Beziehungen zu anderen Menschen gestaltet werden (Bauer, 2006). Die Erfahrungen, die wir in unserem Werden, Wachsen und Sein mit anderen Menschen haben, prägen maßgeblich unser Bild. Wenn ich eine prosoziale Einstellung zu mir und zu anderen Menschen habe, kann dies vertrauensvolle Beziehungen begünstigen. Umgekehrt kann eine pessimistische Haltung gegenüber sich selbst und anderen Personen Misstrauen sowie negative Zuschreibungen unterstützen (Bauer, 2006).
Die Unterscheidung eines positiven oder negativen Menschenbildes taucht in gesellschaftlichen Debatten immer wieder auf. Roberto Esposito, ein italienischer Philosoph beschreibt das negative Menschenbild als eine Haltung, die sich in grundsätzlichen gegenseitigem Misstrauen zeigt. Das Bild der Natur wird hier mit Chaos und Barbarei in Beziehung gesetzt. Das Dasein wird als Überlebenskampf erfahren, indem nicht ein Miteinander, sondern nur ein Gegeneinander existiert. Zudem besteht gemäß Esposito bei einem negativen Menschenbild ein Separationsdenken. Dies bedeutet, dass die Welt und die eigene Person mit einer Trennung von Körper und Geist oder auch Objekt und Subjekt betrachtet wird (Esposito, 2004, zitiert nach Brocchi, 2018, S. 6).
In den 1950er Jahren etablierte sich in der Psychologie zunehmend der Gegenentwurf eines positiven, humanistischen Menschenbildes. Der Mensch wird als beziehungsorientiert und verantwortungsvoll beschrieben (Korf, 2022). Menschen werden als einzigartig betrachtet. Zudem vertritt der Humanismus die Haltung, dass der Mensch von Grund auf gut ist (Pörtner, 1999). Diese Perspektive geht davon aus, dass der Mensch bestrebt ist, sein Potential zu entfalten, Entscheidungen in seinem Leben selbst zu treffen, um das Leben auf moralischer und ethischer Ebene selbst zu bestimmen. Die Gleichheit aller Menschen unter Einhaltung der Würde wird als zentraler Antrieb dargestellt (Korf, 2022). Das humanistische Menschenbild wurde auch bereits im Christentum mit einem ganzheitlichen Ansatz als Einheit von Körper, Seele und Geist thematisiert (Pörtner, 1999).
Die Ergebnisse der Neurobiologie und die Entdeckung der Spiegelneurone widerlegen die Annahme, dass der Mensch nur in Konkurrenz und im ständigen Überlebenskampf agiert. Die amerikanische Biologin Lynn Margulis (1938-2011), betont, dass die Zuschreibungen von Kampf und Konkurrenz auf menschlichen Konstruktionen basieren, die wiederum aus der Wirtschaftstheorie in die Biologie transferiert wurden. Die Kriterien von Kampf und Konkurrenz seien in der Natur nicht ausschlaggebend, die Biologie orientiert sich nicht am Erfolg wie die Wirtschaft (Margulis, 1990, zitiert nach Bauer, 2006, S.18). Selbst Darwin hat bereits beschrieben, dass das Wachstum und die Entwicklung von einer beträchtlichen Anzahl von Pflanzen und Tieren reduziert wird, wenn die Arten permanent mit Umweltstress konfrontiert sind (Darwin, 1859, 1871, zitiert nach Bauer, 2006, S. 221). In den späteren Werken von Darwin „Die Abstammung des Menschen“ und „Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren“ betonte er die bemerkenswerte Fürsorge, die Tiere füreinander entwickeln und zeigen. Er sprach sogar von einem „sozialen Instinkt“, der sich auf den Menschen übertragen lässt und durch aktive Umsetzung (Wiederholung) unterstützt wird (Darwin, 1871, 1872, zitiert nach Von Westphalen, 2019, S.23). Aber warum glauben nach wie vor so viele Menschen daran, dass der Mensch nur im Wettbewerb mit anderen überleben kann?
Der Mensch als Industriepalast
Dr. med. Fritz Kahn (1888–1968), ein Berliner Arzt, hat 1926 sein fünfbändiges Werk „Das Leben des Menschen“ publiziert. Im Rahmen dieses Werkes verwendete er technische Illustrationen, die den Menschen mit einer Maschine vergleichen. Dies entsprach dem damaligen Zeitgeist der 1920er Jahre. In der Industrialisierung und zunehmenden Mechanisierung wurde die Funktionalität und Produktivität als besonders erstrebenswert angesehen. In der Illustration wirkt der Mensch „depersonalisiert“ und „entpsychologisiert“. Die damalige Vorstellung beruhte darauf, dass der Mensch nur als Maschine funktioniert. Der Blutkreislauf wird als Röhrensystem und die Nahrungsverarbeitung als mechanisch-chemische Fabrikation dargestellt. Die individualpsychologische Betrachtung wurde damals nicht miteinbezogen (Jachertz, 2010). Die Idee, dass der Mensch eine Maschine ist, wurde bereits im 19. Jahrhundert als Idealbild entwickelt. In der klassischen, liberalen Wirtschaftstheorie wurde das Bild des „Homo oeconomicus“ entworfen. Die Charakterisierung des Homo oeconomicus basiert darauf, dass der Mensch seine Handlungen klar rational und gut informiert hinsichtlich des Kosten-Nutzen Verhältnisses abwägt. Generell haben Empathie und Mitgefühl keinen ökonomischen Wert im Idealbild des Homo oeconomicus. Empathie und Mitgefühl werden, wenn überhaupt, nur in der Berechnung der Vor- und Nachteile miteinbezogen. Nur wenn sich der eigene Marktanteil mit dem Einsatz von Mitgefühl und Empathie (Nutzenmaximierung) zu einer höheren sozialen Anerkennung (Kostenmaximierung) steigern lässt, lohnt sich der Einsatz (Von Westphalen, 2019).
Singer (2015) beschreibt in ihrem Buch „Mitgefühl in der Wirtschaft“, dass der Homo oeconomicus kein klassisches Menschenbild darstellt. Vielmehr verweisen Wirtschaftswissenschaftler*innen darauf, dass damit eine Möglichkeit sichtbar wird, wie die Welt mit mathematischen Formeln und entsprechenden Lösungen vereinfacht berechnet werden kann (vgl. Singer, 2015 zitiert nach von Westphalen, 2019, S. 32). Die Ökonomin Gabriele Michalitsch deklariert dennoch, dass das Bild des Homo oeconomicus in der neoklassischen Wirtschaftstheorie seit über 100 Jahren immer wieder betont wird. Der Neoliberalismus, der seit den 1920er Jahren für marktwirtschaftliche Deregulierung und Privatisierung steht, erweitert das Bild des nutzenorientierten Menschen als „Industriepalast“. Der neoliberale Mensch wird als stets flexibel, individualisiert, kommunikativ, international, genoptimiert, zukunftsgläubig, konkurrenzorientiert, aktiv und unbedingt maximierend am ökonomischen Erfolg interessiert, beschrieben (Michalitsch, 2006, zitiert nach Mühlbauer, 2017). Das Ziel von neoliberalen Strukturen und dem Idealbild des rational agierenden Menschen ist das Wirtschaftswachstum. Dies bedingt die Überzeugung, dass die Wirtschaft immer und unendlich wächst, basierend darauf, dass unendliche Ressourcen vorhanden sind (Radt, 2010, zitiert nach Mühlbauer, 2017). Seit den 1980er bis 90er Jahren wurde in der westlichen Welt das Gesundheitswesen immer stärker auf Marktprinzipien, Deregulierung, Effizienz und Profitstreben ausgerichtet (Dawson et al., 2019). Der Abbau von personellen Ressourcen und pflegerischen Leistungen, die nicht im Leistungskatalog enthalten sind, ist eine wesentliche Folge davon. Ökonomischer Nutzen und die daraus folgenden betriebswirtschaftlichen Kosten wurden klar gegeneinander abgewogen.
Pflegeleitbild & Menschenbild
Die Arbeit von Pflegefachpersonen wird in Leitbildern oft als ganzheitliche, unterstützende, respektvolle Betreuung beschrieben (Büker & Lademann, 2019). Das Menschenbild, dass die Pflegefachperson vertritt, beruht auf einer holistischen Betrachtung. Der Begriff Holismus entstammt einer philosophisch-wissenschaftlichen Überzeugung einer Totalitätsperspektive. Dieser systematische Blick ermöglicht ein Verständnis von Prozessen, Strukturen und Zusammenhängen zwischen den einzelnen Elementen (Stemmer,1999).
Im Berufsbild der Pflegefachperson wird auf eine ethisch-reflexive und patient*innenorientierte Grundhaltung verwiesen. Die christlichen Bezüge sind auch nach dem Wirken von Florence Nightingale (1820-1910) und Liliane Juchli (1933-2020) immer noch vorhanden. Der Ethikkodex des International Council of Nurses verweist darauf, dass Pflegefachpersonen in der Ausübung ihrer beruflichen Profession Werte wie Respekt, Gerechtigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Integrität vermitteln, unterstützen und fördern (ICN, 2021). Die sehr hohen Anforderungen der Normen und Werte des ICN, die Pflegefachpersonen erfüllen sollen, implizieren ein Bild, dass diese Berufsgruppe über multidimensionale Fertigkeiten verfügen muss, um diese Erwartungen mit der Realität auch nur ansatzweise zu vereinbaren.
Leider werden die geschichtliche Entwicklung und die gesellschaftspolitischen Umstände des Berufes nach wie vor zu wenig reflektiert. Bettina Flaiz (2018) schreibt dazu, dass es zur Prägung von religiösen Institutionen im Gesundheitswesen und der Entwicklung einer professionellen Identität von Pflegefachpersonen bisher keine Untersuchungen gibt (Flaiz, 2018). Der Wunsch Gutes zu tun und Gutes zu bewirken ist nach wie vor das intrinsische Motiv den Beruf zu wählen. Jedoch wird der Beruf in heutigen Diskursen oft vereinfacht dargestellt. Im Werbespot „Ehrenpflegas“ des deutschen Bundesfamilienministeriums (2020) wird dies besonders deutlich. Auszubildende der Pflege werden gezeigt, wie sie Tabletten ordnen, Patient*innen beim Toilettengang helfen oder sich dafür einsetzen, dass die Bewohner*innnen ein Frühstücksei erhalten, dass sie mögen. Als Qualifikation ist es scheinbar ausreichend, das Herz am rechten Fleck zu haben (Maas, 2020).
Der Pflegeberuf ist zudem nach wie vor ein feminisierter Bereich und wird auch mit femininen Eigenschaften assoziiert (Büker & Lademann, 2019). Die Aussage „Mädchen für alles“ ist leider immer noch Alltag. Dieses Bild vermittelt eine ständige Verfügbarkeit, die die Ausübung des Berufes auf Handgriffe reduziert (Zegelin & Quernheim, 2019).
Dies war aber nicht immer so. Christine Sowinski, Pflegefachfrau, Diplom-Psychologin und Leiterin des Kuratorium Deutsche Altershilfe in Köln beschreibt, dass sie in den 1970er und 1980er Jahren erlebt hat, dass der Pflegeberuf als sogenannter „In- Beruf“ gesehen wurde. Aus der Perspektive der damaligen „Post-Hippie-Bewegung“ waren handwerkliche und soziale Berufe sehr angesagt. Eine Lehre bei einer Bank zu absolvieren, galt dagegen als unattraktiv. Einen Ausbildungsplatz in der Pflege zu ergattern, war damals sehr schwierig, so dass sich ihr Vater – ein Germanistikprofessor – aktiv für sie einsetzen musste. Viele ihrer Freundinnen haben sie damals beneidet und sie erstaunt gefragt: Wie hast Du das denn geschafft? Sowinski legt dar, dass das Bild der damaligen Krankenschwestern mit einer hohen körperlichen, sozialen und seelischen Kompetenz verbunden wurde (Zegelin & Quernheim, 2019).
Ökonomische Erwartungen & Leitbild?
Das Phänomen des moral distress ist im Gesundheitswesen kein neuer Begriff, sondern wurde bereits in der Studie „Nursing practice: the ethical issues“ von dem Philosophen Andrew Jameton (1984) analysiert. Als Ursachen für das Auftreten von moralischem Stress benannte er, dass Menschen eine Tätigkeit grundsätzlich als gut empfinden, jedoch institutionelle Zwänge, dies verunmöglichen. Insbesondere für Pflegefachpersonen führt dies zu einem ständigen Dilemma. Da nicht die Möglichkeit besteht, so zu pflegen und zu arbeiten, wie man gerne möchte, kann dies einen frühzeitigen Berufsausausstieg begünstigen. Die UNIA-Gewerkschaft ermittelte im Jahr 2019, dass jährlich 2400 Pflegepersonen in der Schweiz den Pflegeberuf verlassen (Jorio & Bondolfi, 2020).
Wenn das Erleben von Minderwertigkeit, Ohnmacht, Ärger und Frustration das Arbeitsleben dominieren, führt dies zu einem sehr belastenden Klima. Die Teamarbeit ist gerade im Pflegekontext ein zentraler Bestandteil der täglichen Arbeit. Bartholomew (2009) sagt dazu: „Aber was passiert mit der Empathie, der Wertschätzung und letztlich der professionellen Beziehungsgestaltung, wenn nur der Wettbewerb und die Konkurrenz dominiert? Was passiert mit Menschen, die mit Sanktionen rechnen müssen, wenn sie nicht den wirtschaftlichen Normen entsprechen?“
Pierre André Wagner, Leiter der Rechtsabteilung des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner des SBK beschreibt folgende Erfahrungen aus der Praxis: „Wenn Pflegefachpersonen aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sind Nachtschichten zu übernehmen, müssen diese mit einer Kündigung rechnen. Wenn internes Fehlverhalten oder Missstände offen thematisiert werden, ist Mobbing häufig die Konsequenz. Wenn eine Pflegefachperson Widerstand gegenüber einer Reduktion äussert, die die Qualität der Pflege beeinträchtigt oder gar vernichtet, wird diese mit dem Vorwurf der mangelnden Loyalität gegenüber der Institution konfrontiert“ (Jorio & Bondolfi, 2020).
Ständiger Stress führt zu einer horizontalen Feindseligkeit auf gleicher Befugnisebene (Bartholomew, 2009). Pflegefachpersonen werden durch die Arbeitsbedingungen nicht zum Miteinander, sondern zum Gegeneinander bestärkt.
Der zentrale Antrieb im Kapitalismus ist eine kontinuierliche Unzufriedenheit von Menschen. Die Wahrnehmung von Sieger*innen und Verlierer*innen fördert Ungleichheit und blockiert Kooperation und Solidarität. Zudem verursacht permanentes Wettbewerbsdenken- und Verhalten Angst und Unsicherheit. Stress vermindert außerdem die Fähigkeit Empathie zu zeigen und zu vermitteln. Dort wo ständiger Druck existiert, nimmt die Aggressionsbereitschaft zu (Von Westphalen, 2019). Die Unzufriedenheit, die nicht nur innerhalb der Zusammenarbeit existiert, zeigt sich auch in der Beziehungsgestaltung zu Patient*innen. Was den Pflegberuf auszeichnet, nämlich die Empathie und Fürsorge zu anderen Menschen, kann nicht gelebt werden.
Caring beschreibt eine wesentliche Kernkompetenz der Pflegepraxis: die Fähigkeit und Bereitschaft sich auf andere Menschen einzulassen. Beim bewussten Miteinbezug von positiven Lebensereignissen überträgt sich das positive Wiedererleben von Erinnerungen auf die Beziehung. Es entsteht dadurch ein wechselseitiger Prozess (Watson, 1996, zitiert nach Bauer, 2018, S. 195). Bei einer Caring-basierten Pflege spiegelten die Forschungsresultate, dass Betroffene sich emotional als sicherer, energetischer und persönlich gewürdigter wahrnehmen. Das Gefühl des Verlustes wurde geringer und das Vertrauen in Beziehungen wurde gestärkt. In Wechselwirkung zeigte sich bei den Pflegefachpersonen, dass beim Einsatz von Caring die persönliche Zufriedenheit, Gefühle der Dankbarkeit, der Integrität und der Selbstachtung steigen. Bei einer Haltung, die nicht auf Caring basiert, berichteten Pflegefachpersonen, dass sie sich als depressiv, ängstlich, vergesslich und erschöpft wahrnehmen (Bauer, 2018).
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) beauftragte die schweizerische Patient*innenorganisation (SPO) 2020, eine explorative Studie zum Thema „Quality through patients’ eyes“ zu untersuchen. Es wurde ein verhältnismäßig kleines Sample von zwölf Einzelinterviews mit Patient*innen zum Erleben ihres Krankenhausaufenthaltes erhoben. Zum Aspekt Ganzheitlichkeit haben die betroffenen Personen folgende Aussagen gemacht: „Mich als denkende und mitdenkende Person wahrnehmen“ oder „Mich als ganzen Menschen sehen (auch wenn ich nur ein Problem an der kleinen Zehe habe)“. Zum Aspekt Standardisierung wurde formuliert „Ich werde als querulatorisch erlebt, wenn die Krankheit vom Standardverlauf abweicht“ oder „Im Spital ist es wichtiger, einfach weitermachen zu können, den Betrieb aufrecht zu erhalten steht im Vordergrund; da ist keine Zeit zu schauen, was es für Probleme jenseits des medizinischen Erstproblems gibt“ (Berchtold et al., 2020).
Kurzfristige oder langfristige Ziele?
Das bereits beschriebene Idealbild des Homo oeconomicus wird durch eine hohe Flexibilität gekennzeichnet, sich immer wieder neuen Strukturen anzupassen. Schwierigkeiten gelten als Herausforderungen, um sich stetig in der Überwindung dieser zu optimieren. Wettbewerb und Konkurrenzfähigkeit werden als erstrebenswerte Tugenden betrachtet. Kooperation, Kompromissbereitschaft, Solidarität und Loyalität gehören nur dann zum Repertoire, wenn sie zum Gewinn führen. Richard Sennett, ein amerikanischer Soziologe schreibt dazu, dass sich in kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaften dadurch das Verständnis von langfristigen und kurzfristigen Zielen in der Arbeitswelt grundlegend verändert hat. Die Haltung, keine langfristigen Ziele zu verfolgen führt gemäß Senett bei Arbeitnehmer*innen zu einer Orientierungslosigkeit. Das Gefühl von Bindung und Zugehörigkeit wird aufgehoben (Sennett, 2000). Dienst nach Vorschrift ist eine häufige Folge davon. Dass Kliniken, aufgrund von mangelndem Pflegefachpersonal sehr häufig die Dienste von Zeitarbeitsfirmen in Anspruch nehmen, ist bereits Alltag geworden. Gerald Gass, Vorsitzender der deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) beschreibt in der der Süddeutschen Zeitung im April 2023, dass diese Leiharbeit zunehmend zum materiellen und immateriellen Kostenfaktor wird. Pflegefachpersonen, die über eine Leiharbeitsfirma angestellt sind, verdienen in der Regel deutlich mehr als festangestellte Pflegefachpersonen und dürfen sich ihre Dienste aussuchen. Diese Faktoren führen unweigerlich zu einem schwierigen Betriebsklima. Im deutschen Bundestag wurden die Mehrkosten berechnet, die bei einer ständigen Inanspruchnahme von Leiharbeitsfirmen entstehen. Eine Klinik zahlt im Durchschnitt circa 108,500 Euro im Jahr für das Ausleihen einer Pflegefachperson. Für die festangestellte Pflegefachperson belaufen sich die Kosten dagegen auf 60,000 Euro im Jahr. Die hohen Ausgaben an die Leiharbeitsfirma werden an anderer Stelle, häufig auf Kosten der Patienti*nnen wieder eingespart (Slavik, 2023).
Während der ärztliche Dienst mit der Einführung der Fallpauschale auf gewinnbringende Leistungen wie Diagnosen, Operationen und Therapien ausgerichtet wurde, ist die Pflege betriebswirtschaftlich gesehen oft ein Kostenfaktor (Zegelin & Quernheim, 2019).
David Schwappach, Direktor der Patientensicherheit Schweiz berichtet in einem Interview (2020), dass sich die Beurteilung von Verwaltungsräten und CEOs in Spitälern oft nach der Bettenauslastung orientiert, jedoch nicht auf die Patientensicherheit ausgerichtet ist (Amrein & Bassani, 2020).
Fazit & Ausblick
Gesundheit ist in der Ökonomie längst ein Produkt geworden. Die Arbeit von Pflegefachpersonen ist von neoliberalen Strukturen geprägt. Aufgrund der prekären Personalsituation und dem bestehenden Kostendruck besteht leider sehr oft ein defizitärer Blick auf die individuelle Situation der Patient*innen. Der Mensch wird zum Objekt, zum Humankapital. Die Bettenzahl, eine schnelle Verwahrung und Versorgung sowie eine kostengenerierende Aufenthaltsdauer mit einer verkürzten Hospitalisierung sind die maßgebenden Leitplanken in der Pflege und Medizin geworden. Die pflegerische Interaktion muss sich in eine „Warenlogik“ einfügen, um einer Rentabilität gerecht zu werden. Ein Beispiel aus der Praxis: Wenn sich ein Mensch während eines stationären Aufenthalts Suizid begeht, erfolgt für die weiteren Patient*innen der Station von nun an eine stündliche Bestandskontrolle. Die Beziehungsgestaltung, die jetzt dringend indiziert wäre, ist personalintensiv, nur bedingt abrechenbar, und bei einem chronischen Personalmangel nicht möglich. Kontrollinstanzen wie eine simple Liste zur Bestandsaufnahme von An- oder Abwesenheiten lassen sich dagegen abbilden und evaluieren. Wenn in einem Warenlager regelmäßig zur Revision die Produkte gezählt werden, um einen Überblick zu erhalten, ist dies sachlogisch gesehen sicherlich sinnvoll. Aber Produkte sind Objekte und Menschen sind Subjekte. Dürfen Menschen in einer Krise nicht mehr Beachtung und Zuwendung erwarten? Die Einführung der Fallpauschale hat das Gesundheitssystem massiv in seiner Haltung gegenüber anderen Menschen geschwächt. Nicht mehr das Individuum steht im Zentrum, sondern wieviel Gewinn mit dem Faktor Mensch erwirtschaftet werden kann.
Die Persönlichkeit, das Geworden sein, das Identitätsgefühl sowie das Gefühl von Verbundenheit ist für uns alle existentiell. Ein holistisches Menschenbild, dass aktiv biografische Aspekte, den aktuellen Zustand und vor allem die Individualität des Einzelnen in die aktuelle Situation miteinbezieht, sollte eigentlich die Basis für jede pflegerische Beziehungsgestaltung sein. Innovationen und Veränderungen sind dringend indiziert, da die Herausforderungen für uns alle nicht weniger, sondern vermutlich mehr werden.
Die Verein Empowermente, der 2022 gegründet wurde, bietet Wissen und Unterstützung für Personen im Sozial- und Gesundheitswesen zur fachlichen Unterstützung und Begleitung an. Es werden Weiterbildungen, aber auch Workshops für betroffene Jugendliche, die psychisch belastet sind, ermöglicht. Zudem besteht die Möglichkeit, dass belastete Familien direkt zuhause im Umgang mit familienzentrierten Problemen fachlich beraten und begleitet werden. Die Arbeit orientiert sich somit am Prinzip „Community Nursing“ und „multisystemic treatment“, mit dem Bezug zu geisteswissenschaftlichen Ansätzen aus dem Affekt- Resonanz- Training von Johann Steinberger (Kernmayer, 2023). Der Begriff des Gemeinwohls bietet für uns alle Chancen eines gemeinsamen Wachstums. Weniger in einem profitorientierten Denken, sondern vielmehr in der Stärkung von gegenseitiger Resilienz und Fürsorge füreinander statt gegeneinander. Welche Möglichkeiten würden entstehen, wenn Politik und Gesellschaft, das Potential, das in dem humanistischen Menschenbild steckt, erkennen würden? Wie attraktiv wäre es, den Beruf einer Pflegefachperson auszuüben, wenn mehr Zeit, Raum und Möglichkeiten für eine gelingende Beziehungsgestaltung gegeben wären? Wissenschaftliche Forschungen aus der Soziologie, Psychologie und Neurobiologie haben bereits die soziale und kooperative Haltung sowie die positiven Auswirkungen für die Menschen belegt. Dann wäre doch jetzt der Zeitpunkt, dieses Wissen für das Klima und unser aller Wohlergehen endlich auch erleb- und erfahrbar werden zu lassen.
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