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Daniela Schoberer
Entscheiden in der Pandemie
– eine Herausforderung für Pflegepersonen

Die erste Welle der Corona-Pandemie hat die Pflege völlig unvorbereitet getroffen. Situationen mussten neu bewertet und Entscheidungen unter anderen Voraussetzungen getroffen werden. Valide Informationsressourcen waren kaum vorhanden. Eine Interviewstudie zu Arbeitsanforderungen von Pflegepersonen in Alten- und Pflegeheimen bringt als Nebenergebnis diese Herausforderung zutage.

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Pflegepersonen erwerben im Laufe ihrer Ausbildung und Berufserfahrung eine solide Wissensbasis, um pflegerelevante Entscheidungen selbstsicher und zufriedenstellend treffen zu können. Dieses Wissen umfasst in der Regel sowohl explizites Wissen (z. B. Wissen aus Lehrbüchern, Leitlinien oder Fachartikeln) als auch implizites Wissen (z. B. praktische Erfahrungen und Fertigkeiten, organisatorische Vorgaben und Routinen, Unternehmenskultur) (Scholz, 2008). Bei pflegerelevanten Entscheidungen werden, im Sinne der evidenzbasierten Praxis, diese Wissensquellen um eine Komponente erweitert, nämlich jene der Patient*innen- bzw. Bewohner*innenwünsche und -bedürfnisse (Behrens & Langer, 2016).
In der ersten Welle der Corona-Krise verfügten Pflegepersonen noch nicht über das erforderliche implizite Wissen, auf das sie bei pflegerelevanten Entscheidungen zurückgreifen konnten, und auch explizites Wissen war kaum vorhanden. Pflegepersonen mussten Situationen also ohne Vorerfahrungen und bestehende Vorgaben bewerten und entscheiden. Interviews mit Pflegepersonen in vier österreichischen Pflegeheimen, die im Rahmen einer qualitativen Studie zu Arbeitsanforderungen von Pflegepersonen durchgeführt wurden (Hödl & Schoberer, in Begutachtung), machten diese Problematik deutlich. Eine diplomierte Pflegeperson meinte dazu: „Wir waren nicht vorbereitet – wie sollen wir mit Verdachtsfällen umgehen, Isolierzimmern, Trennung der Mitarbeiter*innen …“ Diese Unsicherheit wurde zu Beginn der Pandemie von Pflegepersonen als sehr belastend wahrgenommen. Manche Einrichtungen oder Abteilungen etablierten eigene Direktiven, noch bevor es offizielle Empfehlungen seitens der Regierung gab, und setzten dadurch frühzeitig Maßnahmen zur Infektionseindämmung um. Diese Regelungen basierten auf individuellen Expertisen von Führungskräften und hausinternen Meinungsführer*innen sowie auf früheren Erfahrungen im Umgang mit Infektionskrankheiten. Jegliche Informationen seitens der Pflegeleitungen wurden als sehr positiv wahrgenommen und vermittelten den Pflegepersonen ein Gefühl von Sicherheit. Dazu eine Pflegeperson: „Obwohl sie (Leitungen) selbst oft nicht gewusst haben, was Sache ist, haben wir fast täglich Informationen bekommen – das gibt Sicherheit.“ Informationen bzw. Vorgaben zum Umgang mit der Pandemie wurden relativ unkritisch angenommen. Es überwog die Erleichterung darüber, dass es „irgendeine“ Vorgabe gab, dies reduzierte die zu Beginn vorherrschende Unsicherheit. Unklar jedoch war für viele Pflegepersonen der Grad der Verbindlichkeit solcher Vorgaben. So eine Pflegeperson: „Ist das jetzt eine Empfehlung oder eine Richtlinie, die eingehalten werden muss?“ In einer teilnehmenden Einrichtung wurde sehr frühzeitig ein interdisziplinär besetzter Corona-Krisenstab eingerichtet, der Informationen zur Verfügung stellte und auch bei Fragen/Entscheidungsfindungen kontaktiert werden konnte. Dies wurde in dieser speziellen Einrichtung als sehr unterstützend wahrgenommen.
Bei Ad-hoc-Entscheidungen wogen Pflegepersonen die Vor- und Nachteile bzw. Konsequenzen der zu treffenden Entscheidung auf verschiedenen Ebenen ab: Was bedeutet die Entscheidung für die betroffenen Bewohner*innen, für die Abteilung, für die Einrichtung? Eine Pflegeperson meinte: „Wenn du jemanden ins Krankenhaus geschickt hast, sei es, dass der nur gestürzt ist … da überlegst du es dir ja fünfmal …“ Vorherrschende Ängste/Überlegungen waren die Möglichkeit einer Ansteckung dieser Person im Krankenhaus und dadurch die Einschleusung des Virus ins Pflegeheim nach deren Rückkehr, die Belastung der Bewohner*innen durch coronabedingte Regelungen im Krankenhaus, insbesondere Besuchsbeschränkungen, sowie mögliche Verletzungen infolge des Sturzes. Unterstützung durch andere Berufsgruppen, z. B. wie vor der Pandemie üblich durch Hausärzte, gab es in diesen Situationen selten. Dazu eine Pflegeperson: „Die Ärzte haben gesagt, sie kommen nur im Notfall … aus der Ferne haben sie dann gesagt, ist in Ordnung.“ Der dadurch resultierende erweiterte Handlungs- und Entscheidungsspielraum wurde aber nicht nur negativ wahrgenommen. Manche Pflegepersonen fühlten sich dadurch in ihrem Handeln und ihrer Kompetenz bestärkt und entwickelten in dieser Zeit ein gesteigertes Selbstbewusstsein in ihrer Rolle als Pflegeperson.
Die Abwendung von COVID-19-Infektionen in der eigenen Einrichtung galt für die meisten Pflegepersonen als oberste Prämisse bei zu treffenden Entscheidungen. Maßgeblich war dabei die Angst vor möglichen Schuldzuweisungen, falls es zu Infektionen in der eigenen Einrichtung käme. Diese Prämisse war mit Wünschen und Bedürfnissen von Bewohner*innen und insbesondere auch von Angehörigen nicht immer gut vereinbar. Bewohner*innen wurden teilweise angehalten, im Zimmer zu verweilen und auch die Mahlzeiten dort alleine einzunehmen, um Kontakte zu vermeiden. Auch Tische wurden zur Kontaktreduktion weiter auseinandergerückt, wodurch jedoch die Kommunikation und Interaktion der Bewohner*innen untereinander erschwert wurde. Regelungen für den Umgang mit Angehörigen zu vereinbaren, ohne die Infektionsgefahr zu erhöhen, galt als besondere Herausforderung.
Als unterstützend bei Ad-hoc-Entscheidungen wurden Absprachen im Team oder mit Vorgesetzten genannt. Diese dienten einerseits der eigenen Absicherung und Reduktion der Angst vor einer Fehlentscheidung und steigerten andererseits die Selbstsicherheit bei der Umsetzung der durch eine Entscheidung bedingten Maßnahmen. Interdisziplinär getroffene Entscheidungen wurden als besonders entlastend empfunden.
Durch diese Interviews mit Pflegepersonen wurde deutlich, wie wichtig rasch verfügbare und klare Rahmenvorgaben, z. B. in Form von interdisziplinär entwickelten Leitlinien, in Krisensituationen sind. Solche Rahmenvorgaben geben Struktur und vermitteln Sicherheit. Entscheidungen klar und transparent im Team zu kommunizieren, ist eine weitere wichtige Maßnahme, die Pflegepersonen bei der Entscheidungsfindung unterstützt und entlastet. Zudem bedarf es klarer Zielvorgaben. Durch die subjektiv wahrgenommene Zielvorgabe, Infektionen um jeden Preis zu verhindern, wurden manche Bedürfnisse der Bewohner*innen und Angehörigen in den Hintergrund gerückt. Dem sollte in kommenden Krisensituationen durch die rasche Entwicklung und Kommunikation von klaren Zielvorgaben und Empfehlungen, welche die Bedürfnisse aller Beteiligten (Pflegepersonen, Bewohner*innen und Angehörige) sowie die Lebensqualität der Bewohner*innen berücksichtigen, entgegengewirkt werden.

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Literatur

Behrens, J. & Langer, G. (2016). Evidence based Nursing and Caring. Methoden und Ethik der Pflegepraxis und Versorgungsforschung. Bern: Hogrefe AG.

Hödl, M. & Schoberer, D. (in Begutachtung). COVID-19 pandemic: Burdens on and consequences for nursing home staff. (eigereicht im Journal of Advanced Nursing).

Scholz, A. M. (2008). Wissensmanagement in der Altenpflege: der Umgang mit der Ressource Wissen in Pflegeeinrichtungen – eine explorative Untersuchung. Dortmund: Sozialforschungsstelle Dortmund. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-323368

Zur Person

Dr.in Daniela Schoberer BSc MSc
ist Pflegewissenschafterin und Lektorin am Institut für Pflegewissenschaft der Medizinischen Universität Graz. Im Rahmen ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich mit der Forcierung einer evidenzbasierten Pflegepraxis, u.a. durch die laienverständliche Aufbereitung von Pflegeforschungsergebnissen und die Entwicklung von evidenzbasierten Empfehlungen für die Praxis. Sie ist Autorin der österreichischen evidenzbasierten Leitlinie zur Sturzprävention.

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