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Moser-Siegmeth V., Archan T., Metzenbauer D., Zettl-Wiedner K., Tarnawski, U., Fida C.
Umgang mit Scham und Beschämung in der geriatrischen Langzeitpflege
– ein Forschungsprojekt zur Entwicklung von Handlungsempfehlungen

Professionell Pflegende sind in ihrer Tätigkeit täglich mit Schamgefühlen von Bewohner*innen konfrontiert und sind verpflichtet, den achtsamen Umgang mit diesen Gefühlen zu beherrschen. Im Rahmen einer qualitativen Forschungsarbeit wurden sowohl Bewohner*innen als auch Mitarbeiter*innen eines Pflegekrankenhauses zu diesem Thema befragt. Dieser Beitrag gibt Aufschluss über die Handlungsfelder, welche es zu beachten gilt, damit Pflege Schamkompetenz erreicht.

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Hintergrund

Das Wort Scham stammt etymologisch von der alten germanischen Wurzel skam/skem ab und
bedeutet „Schamgefühl, Beschämung, Schande“. Es geht auf die indogermanische Wurzel kam/kem zurück, die mit „zudecken, verschleiern oder verbergen“ übersetzt werden kann. Dies macht deutlich, wie eng das Gefühl der Scham mit der Vorstellung des ‚Sich Verbergens‘ verbunden ist. Wenn man sich schämt, möchte man sich verbergen, sich dem Blick des anderen entziehen. Das Schamerleben hat aus dieser Perspektive also mit dem Gesehen-Werden von bestimmten Inhalten oder Selbstanteilen zu tun, für die wir uns schämen. Den Beobachter*innen – und sei es auch nur den internalisierten Beobachter*innen – kommt somit im Schamerleben eine große Bedeutung zu (Tiedemann, 2007). Zudem ist Scham universell, individuell ausgeprägt und abhängig von der biografischen Prägung (Immenschuh & Marks, 2017) und jedem Menschen durch sein persönliches emotionales Erfahrungsrepertoire bekannt.
Besonders in der geriatrischen Langzeitpflege ist Scham und Beschämung ein omnipräsentes Thema, welches durch die Auswirkungen der Pandemie zusätzlich an Bedeutung gewinnt. Aus diesem Grund war es Ziel, die Perspektive von Bewohner*innen einer geriatrischen Langzeitpflegeeinreichung zum Thema Scham zu explorieren, diese mit Pflegekräften und Expert*innen zu diskutieren, um abschließend Handlungsempfehlungen zu generieren. Dieser Beitrag fokussiert auf die abgeleiteten praktischen Empfehlungen für Mitarbeiter*innen der Pflege im Umgang mit Bewohner*innen.

Methodik

Für die methodische Bearbeitung wurde ein qualitativer Forschungsansatz gewählt. In einem ersten Schritt wurden Interviews mit Bewohner*innen einer Langzeitpflegeeinrichtung geführt. Im Anschluss daran erfolgten zwei Focus Gruppen Diskussionen, wovon eine mit diplomierten Pflegepersonen und die andere mit Expert*innen aus den Fachbereichen Pflege und Psychologie abgehalten wurde. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel (2009) und ist in Abbildung 1 ersichtlich.
Um ethischen Aspekten Rechnung zu tragen, wurden alle Interviewpartner*innen über Zweck und Ziel des Projektes informiert und gebeten, einen Informed Consent zu unterzeichnen. Die Auswertung der erhobenen Daten erfolgte in anonymisierter Weise.

Ergebnisse
a) Interviews Bewohner*innen
Aus den Interviews mit Bewohner*innen war ein überraschend homogener Umgang mit Scham erkennbar. Das Erhalten der Autonomie, vor allem im Rahmen der Körperpflege, trägt zum Wohlbefinden und zum Vermeiden von schambehafteten Situationen bei. Bewohner*innen berichten, dass vonseiten der Pflegepersonen, wenn möglich, darauf geachtet wird, auf individuelle Präferenzen (ein männlicher oder eine weibliche Pfleger*in übernimmt die Körperpflege) einzugehen. In der Art und Weise der Durchführung von Pflegehandlungen ist von Bewohner*innen ein geschlechtsspezifischer Unterschied erkennbar „jüngere sind scheuer als die Älteren, die würden am liebsten den Intimbereich ausschalten“ (BEW1RES, Abs. 13). Auch sind die männlichen Pflegepersonen „eher vorsichtig und zurückhaltender (BEW1RES, Abs. 17). Bewohner*innen empfehlen bei Beginn der Pflegebedürftigkeit, eine Strategie gegen das Empfinden von Scham zu finden „ich soll mir einbilden alle Ärzte und alle Schwestern kommen nackt zu mir (…). Da habe ich mir das in den Kopf gesetzt“ (BEW2ANT, Absatz 47). Würde das Schamgefühl verletzt „ja ich würde etwas sagen, auch wenn jemand ungut ist, es gibt aber auch Leute die sagen nichts weil sie glauben, dass ihnen dann die Sympathie entzogen wird“ (BEW7JOH, Absatz 27). Bewohner*innen erkennen, wenn sich Pflegepersonen bemühen, schambehaftete Situationen zu überbrücken „vielleicht reden deswegen manche mehr und wollen damit etwas überbrücken“ (BEW6RES, Absatz 39).

b) Focus Gruppen
In den beiden Focus Gruppen wurde der achtsame Umgang mit Scham diskutiert. Man kam zum Ergebnis, dass der Umgang mit Schamgefühlen von Bewohner*innen fester Bestandteil des Arbeitstages ist. Die Schamgefühle von Bewohner*innen mindern sich nicht mit der Aufenthaltsdauer, sondern sie lernen mit der Zeit, mit diesen umzugehen. Es wird beobachtet, dass männliche und weibliche Bewohner*innen ihrer Scham eine andere Ausdrucksform geben „Wenn sich eine Frau schämt, dann zieht sie sich zurück und wird ganz klein. Ein Mann der sich schämt wird sehr groß, der stellt sich noch dominanter in die Situation.“ (Focus Gruppe EXPE4, Abs. 46). Vor allem Männer reagieren auf Beschämung teilweise aggressiv „Auf einmal eine 6er Einlage in der Unterhose zu haben und darauf zu sitzen, das kann den Gemütszustand verändern“ (Focus Gruppe EXPE7, Abs. 41). Auch das Alter der gepflegten Person spielt eine Rolle, denn es besteht die Tendenz, dass Jüngeren das Recht, mehr Schamgefühl zu spüren, zugesprochen wird.

Conclusio

Als Pflegepersonen erinnern wir tagtäglich Bewohner*innen an Dinge, die sie nicht mehr selbstständig ausführen können, dadurch kommt es zu einer ständigen Konfrontation mit Scham. Bewohner*innen können und wollen diese Situation langfristig nicht zulassen und passen sich deshalb an.
Zusammengefasst ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen im Umgang mit Scham:

  • Eine achtsame Kommunikation,
  • die Reflexion nach aufgetretenen Schamereignissen,
  • das Thematisieren von Scham (auch im Pflegeteam),
  • der Respekt von Privat- und Intimsphäre,
  • das Erkennen der individuellen Schamgrenze und
  • ressourcenorientiertes Handeln.

Auch das Anpassen struktureller Bedingungen, wie Orte, in denen Intimität geschützt werden kann, sind wichtig, um überflüssige Scham zu vermeiden. Es gibt viele Beispiele in der Pflege, bei denen deutlich wird, dass Wissen, Können und Gefühl gebraucht wird, um die Würde zu wahren. Aus der Perspektive der Bewohner*innen ist Scham eng mit Schuld gekoppelt. Die Schuld an der Pflegebedürftigkeit zu tragen, die Schuld, ein verändertes Körperbild zu haben. Die Pflegepersonen sind deshalb aufgefordert, sensibel mit dieser selbst auferlegten Schuld umzugehen. Wir empfehlen für die Pflegepraxis eine regelmäßige Sensibilisierung des gesamten Pflegeteams, damit ein schamkompetenter Umgang besser gelingen kann.
Seit Beginn der Pandemie ist das Tragen von Schutzmasken, die einen Großteil des Gesichtes verdecken, verpflichtend. Bewohner*innen können das Gesicht sowie ein freundliches Lächeln der Pflegeperson nur erahnen. Umso mehr sind Pflegepersonen dazu angehalten, sich ihrer Gestik, Berührung und Stimme bewusst zu sein. Der Stoff der Schutzmaske dämpft die Schallwellen, die Stimme ist dumpfer und undeutlicher. Die Emotionen, die im Gesicht der Pflegepersonen wegen der Maske von Bewohner*innen nicht gesehen werden können, müssen durch eine achtsame Haltung und Kommunikation kompensiert werden.

 

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Literatur

Bogner, A., Littig, B., Menz, W. (2005). Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. VS Verlag

Gläser, J., Laudel, G. (2009). Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. VS Verlag

Immenschuh, U., Marks S. (2017). Scham und Würde in der Pflege. Mabuse Verlag

Tiedemann, J. (2007). Die intersubjektive Natur der Scham. Dissertation an der Freien Universität Berlin. Online unter: https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/4758?show=full (Zugriff am 30.06.2020)

Zur Person

Mag. Dr. Moser-Siegmeth Verena
im Haus der Barmherzigkeit Seeböckgasse als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team der Pflegeentwicklung tätig. An ein Diplom für Gesundheits- und Krankenpflege schloss ein Studium der Pflegewissenschaft und Soziologie an der Universität Wien an.

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