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Heidemarie Kelleter & Maria Laura Bono
Mehr Zeit für die Pflege(nden)
Teil 1: Erfahrungen aus Deutschland mit einer neuen Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege

Ein seit langem kontrovers diskutiertes Thema ist die Bemessung des Personals in Pflegeeinrichtungen. Die Zahl der zusätzlich benötigten Pflegepersonen in Österreich wird bis zum Jahr 2030 auf 75700 Personen geschätzt (Rappold & Juraszovich, 2019). Umso relevanter ist die Frage nach einer adäquaten Personalbemessung, um in Zukunft sowohl quantitativ als auch qualitativ angemessene Pflegeleistungen erbringen zu können. Ein Blick in das Nachbarland Deutschland beleuchtet einen neuen Ansatz zur Ableitung des erforderlichen Personals: Nicht die Beeinträchtigungen, sondern die Ressourcen der zu Pflegenden stehen im Mittelpunkt. Welche theoretisch-wissenschaftlichen Überlegungen diesem Ansatz zugrunde liegen und welche Erkenntnisse aus der bisherigen Umsetzung gewonnen werden können, wird in diesem zweiteiligen Beitrag beleuchtet. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen Hintergrund der bedarfsorientierten Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege.

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In Deutschland traten mit der Einführung der Pflegeversicherung (SGB XI) erstmals auch Qualitätsaspekte in der Pflege in den Vordergrund. Gleichzeitig wurde eine Vermarktlichung der Pflege eingeleitet. Pflegesettings werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie z. B. den Präferenzen der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen, den Bedürfnissen des Personals, der Komplexität der Pflege sowie den ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, jedoch auch von länderspezifischen Regelungen.

Mit der Einführung des wissenschaftlich begründeten Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Pflegequalität in der Pflegeversicherung werden zunehmend qualitative und quantitative Aspekte für eine bedarfsgerechte Versorgung in der stationären Langzeitpflege thematisiert.

Wesentliches Kriterium für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit ist seitdem der Grad der Selbstständigkeit und nicht mehr die in den Richtlinien definierten Zeitkorridore für die Pflege. Demnach sind alle für die Selbstständigkeit bedeutenden Fähigkeiten und Aktivitäten zu erfassen sowie der Rehabilitations- und Präventionsbedarf zu ermitteln. In der Realität hat sich jedoch im Arbeitsalltag eine verrichtungsbezogene Sichtweise der Pflegebedürftigen etabliert, die eine gezielte Förderung der noch vorhandenen Selbstständigkeit und Fähigkeiten der Pflegebedürftigen nur unzureichend zulässt (Kelleter et al., 2023).

Grundsätzlich kann professionelle Pflege als menschliche Begegnung und gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Unter dem Einfluss gesellschaftlicher Rahmenbedingungen verändern sich jedoch das Profil professioneller Pflege und ihre Schwerpunkte (Friese & Braches-Chyrek, 2023).

Die Frage, wie eine gute Pflege gewährleistet werden kann, wird seit Jahrzehnten diskutiert und ist aktuell wieder mit der Debatte um den Pflegenotstand verknüpft. Eine geringe Personalausstattung in der Pflege und die damit verbundene Arbeitsverdichtung haben Auswirkungen auf die Pflegequalität, auf die Gesundheit der Pflegenden sowie auf deren Verbleib im Beruf. Aufgrund des Zeitdrucks in den Pflegeeinrichtungen werden bereits heute wesentliche Pflegeleistungen nicht in der erforderlichen Qualität erbracht (Kelleter, 2017; Rothgang et al., 2020). Ein neuer Ansatz zur Ergebnisqualität in der Pflegeversicherung zeigt, trotz unterschiedlicher Ausstattungsmerkmale und Pflegekonzepte, anhand von Indikatoren, was Pflegende in der stationären Langzeitpflege leisten (Kelleter et al., 2023). Pflegeeinrichtungen lassen sich damit vergleichen. Eine gute Ergebnisqualität (Outcome) geht jedoch nicht automatisch mit einer hohen Zufriedenheit der Angehörigen einher. Wenn sie sich aufgrund fehlender Informationen nicht in Aktivitäten der Pflege einbezogen fühlen und ihre Erwartungen nicht mit der Realität übereinstimmen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Pflegeeinrichtung weiterempfehlen (Kelleter, 2017). Professionell Pflegende sind also mit vielfältigen und unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert und stoßen an Grenzen, die nicht selten zu einer Sinnentleerung führen (Badura et al., 2018).

Um die Attraktivität des Pflegeberufs zu sichern, müssen neben dem Pflegeberufegesetz auch die Arbeitsbedingungen in der Pflege so gestaltet werden, dass eine angemessene, den allgemeinen fachlichen Standards entsprechende pflegerische Versorgung möglich ist (Rothgang et al., 2020). Zudem muss die Arbeit in der Pflege gesundheitsgerecht und insbesondere auch für junge Menschen attraktiv gestaltet werden. Im Klartext bedeutet das: Mehr Zeit für die Pflege(nden).

Voraussetzung dafür ist ein einheitliches Verständnis sowie ein standardisiertes Verfahren zur Bemessung des erforderlichen Pflegepersonals. Der Gesetzgeber hat im Zweiten Pflegestärkungsgesetz gemäß § 113c SGB XI der Universität Bremen den Auftrag erteilt, eine wissenschaftlich fundierte Personalbedarfsberechnung zu entwickeln, die nicht nur die Anzahl der zu versorgenden Pflegebedürftigen in der stationären Langzeitpflege, sondern auch das Ausmaß ihrer eingeschätzten Pflegebedürftigkeit berücksichtigt.

Damit soll die Fragestellung aus wissenschaftlicher Sicht geklärt und eine fundierte Grundlage für Entscheidungen in stationären Pflegeeinrichtungen geschaffen werden. Die Ergebnisse der durchgeführten Studie zeigen einen deutlichen Pflegepersonalmehrbedarf, insbesondere an Assistenzpersonen, und vor allem die Notwendigkeit einer Neuverteilung der Aufgaben innerhalb eines Pflegeteams in der stationären Langzeitpflege.

Darüber hinaus wurde die hohe Bedeutung der Interaktionsarbeit in der Pflege hervorgehoben. Seit Juli 2023 können bereits erste Ergebnisse zum Aufbau von Pflegepersonal in den vollstationären Pflegeeinrichtungen auf den Weg gebracht werden. Zwischenzeitlich werden die vorliegenden Studienergebnisse in einem Modellprojekt auf ihre Umsetzbarkeit hin weiterentwickelt. Das neue Verfahren soll Ende 2025 genutzt werden können.

Diese quantitativen und qualitativen Messkriterien zielen jedoch auf eine Personal- und Organisationsentwicklung ab, die sowohl zeitliche Ressourcen als auch Kompetenzen erfordert. Die Umsetzung eines solchen Verfahrens erfordert daher nicht nur ein hohes Interesse, sondern vor allem auch die Akzeptanz der Ergebnisse bei den Akteur*innen in der Praxis. Betrachtet man die klassischen stationären Pflegeeinrichtungen, so sind diese in ihrer Binnenstruktur einerseits funktional organisiert mit Merkmalen der Arbeitsteilung und -zerlegung mit der Konzentration von Tätigkeiten bzw. Aufgaben auf einen bestimmten wiederkehrenden Zeitpunkt. Andererseits finden sich ganzheitliche Formen der Arbeitsorganisation, in denen Tätigkeiten und Aufgaben zusammenhängend und interprofessionell koordiniert erbracht werden. Die verschiedenen Möglichkeiten der Arbeitsteilung führen zu unterschiedlichen Anforderungen an das Personal einer Pflegeeinrichtung, wobei die Zerlegung der Gesamtaufgabe einen höheren Koordinationsaufwand erfordert (Kieser & Kubicek, 1992).

Beleuchtet man in diesem Zusammenhang Qualitätsunterschiede, werden die Grenzen von Pflegeeinrichtungen deutlich. Ein hoher Anteil an Pflegefachpersonen allein führt noch nicht zu einer hohen Ergebnisqualität der Einrichtung (Kelleter, 2017). Inwieweit pflegerische Arbeitsaufgaben und entsprechende Fachkompetenzen im Regelbetrieb einer Pflegeeinrichtung verteilt sind, kann aus der definierten Ergebnisqualität nicht interpretiert werden. Häufig werden pflegerische Interventionen durch den Ablauf und die Organisation der Pflege beeinflusst. Pflegeeinrichtungen verfahren daher in ihrer internen Organisation sehr unterschiedlich. Dennoch muss die Steuerung des Pflegeprozesses als grundlegendes Element der Arbeitsrolle von Pflegefachpersonen nachvollziehbar sein (Kelleter, 2020).

Auch wirken sich fehlende Kenntnisse und Kompetenzen in der Organisation auf die Qualität der Pflege aus. Lernräume und Kompetenzen zur Veränderung von Denk- und Handlungsmustern sind daher von großer Bedeutung. Darüber hinaus müssen interne Maßnahmen so definiert werden, dass die angestrebten Ziele in der Pflegeeinrichtung auch erreichbar sind. Hier haben Führungspersonen einen wichtigen Einfluss, da sie Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume in Organisationsstrukturen eröffnen können (Kieser & Kubicek, 1992).

Es gibt auch interne und externe Widerstände sowie Herausforderungen bei der Umsetzung der neuen Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege. Es bedarf zusätzlicher finanzieller und zeitlicher Ressourcen, um entsprechendes Pflegepersonal einzustellen bzw. weiter zu qualifizieren. Nicht zuletzt kann eine Abkehr von bestehenden Prozessen und Arbeitsweisen auf Widerstände bei Mitarbeitenden und Führungspersonen stoßen.

Mehr Personal allein garantiert jedoch nicht, dass zusätzliche Pflegepersonen zu einer Verbesserung der Pflege führen, wie auch die Studie von Rothgang et al. (2020) zeigt. Um vom Qualifikationsmixmodell zum Kompetenzmanagement in der stationären Langzeitpflege zu gelangen, muss neben der Organisationsentwicklung auch die Personalentwicklung vorangetrieben werden, wie das Projekt des Diözesan-Caritasverbandes Köln zeigt. Das Projekt setzt bewusst auf den qualitativen Ansatz der Personalbemessung. Dazu gehört die Bottom-up-Information über die damit verbundenen Ziele, z. B. mittels einer Kompetenzanalyse den Status quo der Einrichtung zu analysieren, die Umsetzungsstrategien zu definieren, die Kapazitäten dafür zu planen und die Zufriedenheit und Pflegequalität in der Umsetzung wiederholt zu evaluieren. Für die Umsetzung sind die tatsächliche Kompetenz des Pflegepersonals, die Kontinuität und die Koordination der Kompetenzen wichtige Aspekte in den Pflegeeinrichtungen.

Eine Reihe von Organisationen der Pflege macht in Deutschland ihre ersten Erfahrungen mit dem neuen Personalbemessungsverfahren. Was daraus gelernt werden kann und was sich auch auf Österreich übertragen lässt, steht im Mittelpunkt des zweiten Teiles dieses Artikels, der in der nächsten Ausgabe des Pflegenetz.magazins erscheinen wird.

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Literatur

Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J. & Meyer, M. (2018). Fehlzeiten-Report 2018: Sinn erleben – Arbeit und Gesundheit. Springer-Verlag.

Friese, M. & Braches-Chyrek, R. (Hg.) (2023). Care Work in der gesellschaftlichen Transformation: Beschäftigung, Bildung, Fachdidaktik. wbv Media GmbH & Company KG.

Kelleter, H., Zirves, M. & Zenkert, J. (2023). Die Qualität in der stationären Langzeitpflege – mehr als die Summe ihrer Teile. Pflegewissenschaft. Heft 1-2023, Jahrgang (25) hpsmedia, 46:56. https://doi.org/10.3936/2023pw4070

Kelleter, H. (2020). inQS-webbasierte indikatorengestützte Qualitätsförderung zur Verbesserung der Versorgungsqualität. Zeitschrift für Theorie-Praxis-Dialog. Schwerpunkt Care Work 4.0, 74 (181), 19–21.

Kelleter, H. (2017). Outcome zur evidenzbasierten Steuerung in der Langzeitpflege. Wirkungen im Projekt EQisA. Zeitschrift für Evaluation, Ausgabe 1, 173–183.

Kieser, A. & Kubicek, H. (1992). Organisation. (3. Aufl.). De Gruyter.

Rappold, E. &  Juraszovich, B. (2019). Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Österreich. Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Wien.

Rothgang, H., Cordes, J., Fünfstück, M., Heinze, F., Kalwitzki, T., Stolle, C., Kloep, S., Krempa, A., Matzner, L., Zenz, C., Sticht, S., Görres, S., Darmann-Finck, I., Wolf-Ostermann, K., Brannath, W., & Becke, G. (2020). Abschlussbericht im Projekt Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß §113c SGB XI (PeBeM). Bremen.

Zur Person

Dr. Heidemarie Kelleter

ist Referentin für Qualitätsberatung in der Gesundheits-, Alten- und Behindertenhilfe beim Diözesan-Caritasverband Köln e.V.; Sie ist Pflegefachperson und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie leitet und koordiniert wissenschaftliche Projekte zur Pflegequalität und ist Mitglied in wissenschaftlichen Beiräten.

Kontakt: Heidemarie.kelleter@caritasnet.de

Dr. Maria Laura Bono

ist seit 2007 Unternehmensberaterin mit Fokus auf evidenzbasierte Transformation. In der empirischen Sozialforschung genauso wie in Change-Prozessen fest im Sattel führt die Volks- und Betriebswirtin Organisationen zielsicher von der Analyse in die Veränderung. Besonders häufig ist Bono in den Bereichen Gesundheit, Soziales und Bildung tätig, wobei ihr als Geschäftsführerin von datenkompass ein interdisziplinärer Ansatz besonders wichtig ist.

Kontakt: maria.laura.bono@datenkompass.com

 

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