Das Plastiksackerl ist kein Spielzeug und hat über dem Kopf nichts verloren (auf manchen findet sich ein entsprechender Aufdruck), der Hund darf nicht in die Mikrowelle, die nussfreie Schokolade könnte eventuell Spuren von Erdnüssen enthalten. Kurz: Gefahrenhinweise allerorten. Sehr oft dienen sie weniger dem funktionierenden Alltags-(über)Leben, denn: Dass man sich Plastiksackerl nicht über den Kopf zieht, hat sich wohl weitgehend herumgesprochen, ebenso die Sache mit den Haustieren und der Mikrowelle.
Nein, diese Hinweise dienen der Absicherung.
Der – schon längst vorgestrige – Trend kommt aus den USA, feiert allerdings noch fröhliche Urständ‘, was (ausgerechnet!) die vulnerabelsten Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens betrifft. Er hat die Medizin längst mit Macht ergriffen – und wie sieht’s mit der Pflege aus?
Defensive Medizin…
Dem Vernehmen nach geben us-amerikanische Ärzte sich bei Notfällen im Zweifel nicht gern als solche zu erkennen („Manche Ärzte gestehen auch ein, dass sie an einem Unfallort aus Angst vor Klagen keine Erste Hilfe mehr leisten, sondern weiterlaufen“; Müller 2003) oder bieten bestimmte Behandlungen erst gar nicht an – aus demselben Grund (ebd.).
Das ist dramatisch. Professionseigene Anliegen treten in den Hintergrund gegenüber Formalien, die sich verselbständigt haben und zum Selbstzweck geworden sind. Aus Sorge vor allfälligen Klagen wird die ärztliche Kunst fallweise „prophylaktisch“ unterlassen bzw. finden komplexere Behandlungsformen nicht statt.
Der Begriff der defensiven Medizin wird Mitte der 1980er Jahre vom deutschen Chirurgen Werner Wachsmuth ausführlich beschrieben (Wachsmuth 1985); 2015 wird das Phänomen in einem Schweizer Magazin wie folgt erklärt: „Defensive Medizin ist eine Methode medizinischer Praxis, die allfällige Klagen gegen den behandelnden Arzt wegen Vernachlässigung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, Fahrlässigkeit oder eines Kunstfehlers
verhindern soll. Diagnostische Tests oder Therapien werden in erster Linie verordnet und durchgeführt, um das Risiko einer allfälligen straf- oder haftpflichtrechtlichen Verantwortlichkeit zu reduzieren“ (Steurer/Gächter 2015, S. 814).
…und ihre Folgen
Die Autoren erklären weiter, diese Form medizinischer Intervention bliebe nicht folgenlos für Patientinnen und Patienten: teilweise würden sie dadurch unnötigen Risiken bzw. Belastungen ausgesetzt.
Das ist die eine Seite. Die andere: Das Paradigma der Absicherung führt bzw. führte zum Aufbau entsprechender Strukturen. Wo es einst (im Sinne der Professionalisierung) darum ging, eigene Leistungen abzubilden, geht es längst schon darum, sich im Fall von Infragestellungen schadlos halten zu können (und nicht der oder die Einzelne tickt so, sondern das System, das alle umgibt). Die Folgen sind bekannt: 2015 spricht eine HIMSS – Studie von knapp 3 Stunden täglicher Dokumentationsarbeit bei Pflegepersonen, 4 bei Ärzten; dies mache 21% der Personalkosten dieser Berufsgruppen in Krankenhäusern aus.
Ärztinnen und Ärzte sprechen das Problem wie folgt an: man habe den Beruf nicht ergriffen, um „Dokumentationsbögen auszufüllen“ und habe den Eindruck, dass „sich die immensen Dokumentationsanforderungen mittlerweile zu einem Selbstzweck entwickelt haben, bei dem der Fokus nicht auf dem eigentlichen Ziel der Qualitätsverbesserung liegt, sondern vor allem auf externer Kontrolle“ (Osterloh 2022).
Das ist bekannt.
Was es bedeutet, leider auch: Ressourcen sind eben nicht unendlich (auch, wenn gerne so getan wird als ob). Und die Zeit, die hinter Dokumentationssystemen aller Art verbracht wird, fehlt anderswo. Es findet sich die „durchgeschleuste“ Patient*in, es findet sich der Dialog, in dem der allgegenwärtige Bildschirm im wahrsten Sinn des Wortes zwischen den Menschen steht – und der halbe (immerhin aber ein Viertel bis ein Drittel) Arbeitstag, der für Dokumentationen draufgeht.
Nicht, dass jede Dokumentation unnötig wäre, und nicht, dass der Beliebigkeit im Tun das Wort gesprochen werden soll. Aber die Absicherungsschleifen (und damit sind nicht Vergewisserungen in Zusammenhang mit korrekten Medikamentengaben, Dosierungen, Therapievorschlägen, Interventionen etc. gemeint) die sich selbst ständig vermehren (etwa in Zusammenhang mit Datenschutz, Qualitätsmanagement oder allerhand internen und externen Kontrollen) können zum Problem werden. Dann, wenn die Systeme vor der Patient*in bedient werden und die Kommunikation mit der oder dem eigentlichen Adressaten einer Leistung ins Hintertreffen gerät. Kurz: wenn alles das geschieht, was dem Gesundheits- bzw. auch Sozialsystem zunehmend angelastet wird. Nur, dass dessen Akteur*innen sich als Spielball dieser in den letzten Jahrzehnten aufgestellten Strukturen sehen, dies selbst nicht wünschen und – wie sie zunehmend auch öffentlich sagen – Leidtragende dieses gravierenden Problems sind.
Defensive Pflege?
Die Suche nach dem Begriff der „defensiven Pflege“ analog zur defensiven Medizin führt zunächst zu einer Studie, die sich mit dem Pflegehabitus in der Langzeitpflege beschäftigt.
In einem zusammenfassenden Interview mit den Autor*innen zeigt sich folgende Aussage:
„Und das ist dieser Punkt mit der Übermacht der repressiven und regressiven Dispositionen: Sicherheit dominiert alles. Und es entsteht eine defensive Pflege, die nicht aktualgenetisch ausgerichtet ist. Und einige Menschen merken, dass sie es ethisch nicht mehr vertreten können, dass sie einen Job machen, der nicht gut ist“ (Amekor et al 2023, S. 206); die Autoren geben das sogar als Grund für den Ausstieg aus dem Pflegeberuf an.
Es geht also darum, dass Pflege nunmehr vorwiegend auf Sicherheit ausgerichtet ist, und dass das so aufgestellte System seine Akteure auch nicht aus dieser Ausrichtung entlässt.
Zu kurz käme dabei die Aktualgenese, also das, was aktuell und stufenweise in Erscheinung tritt (z.B. eine Wahrnehmung).
Was Pflegende aber gelernt haben, nämlich sich aus der Situation (immer wieder neu) ein Bild zu machen, das mag gelebt werden. Zentraler erscheint aber sehr oft die Vielzahl an Administrations-Systemen; teilweise erheben sie vielleicht auch den Anspruch, den professionellen Blick zu ersetzen.
Diese Fassung des Gesundheitswesens will bedient werden, und zwar mit Dokumentationen und Absicherungen aller Art.
Es ist wichtig und richtig, das eigene Tun und Können abzubilden.
Allerdings ist der Schuss dann nach hinten losgegangen, wenn man von defensiver (also sich letztlich dauernd verteidigender) Pflege sprechen muss. Die ist im Übrigen exakt das Gegenteil von dem, was dereinst unter professionalisierter Pflege verstanden wurde.
Amekor L M et al (2023) Kritik der pflegerischen Vernunft oder wohin führt uns die Absurdität des Systems? Ein abschließender Dialog zur HALT-Studie. – In: Brandenburg H (Hg) Pflegehabitus in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz. Personenzentrierte Pflegebeziehungen nachhaltig gestalten, Stuttgart: Kohlhammer, S. 193-218
Müller T (2003) Klagen treiben US-Ärzte in den Ruin. Hamburger Abendblatt, 09.01.2003;https://www.abendblatt.de/vermischtes/article106792878/Klagen-treiben-US-Aerzte-in-den-Ruin.html [Zugriff: 30.09.2023]
Osterloh F (2022) Qualitätssicherung: Die Last der Dokumentation
Deutsches Arzteblatt 2022; 119(49): A-2186 / B-1806; https://www.aerzteblatt.de/treffer?mode=s&wo=16&typ=16&aid=228767&s=Qualit%E4tsmanagement [Zugriff: 30.09.2023]
Steurer J, Gächter T (2015) Defensive Medizin –
unnötige Medizin? SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(37):814–816; https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/114619/1/418.pdf [Zugriff: 30.09.2023]
Wachsmuth W (1985) Der unheilvolle Weg in die defensive Medizin. – In: Reden und Aufsätze (Ders.) 1930–1984, S. 180-188; Berlin, Heidelberg: Springer; https://doi.org/10.1007/978-3-642-70293-8_22 [Zugriff: 30.09.2023]
Zink S (2015) Zeitfessern auf der Spur. CNE Thieme online; https://cne.thieme.de/cne-webapp/p/news/details/aktuelles_97E66F78B6784CA6A8BA5D3B7B328D54 (Die im Artikel verlinkte Studie ist nicht mehr abrufbar) [Zugriff: 30.09.2023]
Studium der Erziehungs-/Bildungswissenschaft und Publizistik, tätig in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Pflege- und Sozialbereich.
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