In diesem Artikel sollen, beispielhaft für Deutschland, die Komplexität des Zusammenhangs von Gender und Pflege, seine Konstruktionsprozesse und dessen Auswirkungen skizziert werden, um eine Idee von seiner Bedeutung für Pflegewissenschaft und -praxis zu geben. Die Geschichte der Pflegeberufe und die Zuschreibung von sozialen Eigenschaften zum biologischen Geschlecht behindern, so die These, noch immer Professionalisierung und adäquate gesellschaftliche Wertschätzung pflegender Berufe.
Um zu verstehen, warum Gender sehr viel mit Pflege und beides mit der aktuellen Situation der Profession Pflege in Deutschland zu tun hat (1), gebe ich zunächst einen kurzen Einblick in die Geschichte.
Ein „Musterbeispiel für gescheiterte Professionswerdung oder erfolglose Professionsprojekte“ kolportiert Eva-Maria Krampe (2013, S. 43) eine häufig zu findende Einschätzung der Entwicklung der beruflichen Pflege in Deutschland, wie es vor allem im Unterschied zur nahen Verwandten diskutiert wird, der Medizin, die darin deutlich erfolgreicher war; sie ist gesellschaftlich männlich konnotiert, allen Zahlen von Studentinnen und Ärztinnen zum Trotz. Braucht also die Pflege mehr Männer respektive mehr Männlichkeit? Was passiert, wenn mehr Männer Berufe wählen, die als Frauenberufe gelten?
Der Professionalisierungsprozess in der Pflege begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorangetrieben von Medizin und Kirche. Weiterentwicklungen der Medizin und eine neue Art der Krankenhäuser brachte neue Anforderungen an Pflege mit sich; es wurden Qualifizierungskurse organisiert, kirchliche Institutionen gründeten ordensähnliche Gemeinschaften für Männer und Frauen, ‚Mutterhäuser‘, in denen die Menschen statt Lohn Kost, Logis und Alterssicherung erhielten (z.B. die Diakonie). Krankenschwestern waren Mitglied eines Mutterhauses und hatten Gestellungsverträge: Die Verberuflichung blieb lange Zeit in Händen der Kirche, es gab zudem wachsende ökonomische Interessen der Krankenhäuser (Panke-Kochinke 2003).
Die Krankenpflege wird seit den Zeiten der Diakonie „als Berufung, die man lernt“ (Panke-Kochinke 2000, S. 234) gesehen, auch wenn es Florence Nightingale gelang, Krankenpflege als anerkannten Beruf zu etablieren (ebd.). Die beiden Gesichter der Pflege: Profession und Berufung, sind bis heute konstitutiv.
Zunächst wurde Pflege als geeignete Beschäftigung für Männer und Frauen aus der Unterschicht angesehen, mit wachsenden Anforderungen begann jedoch eine „allmähliche Verdrängung der Männer“ (Krampe 2013, S. 45). Zielführender schien es, Frauen aus bürgerlichen Schichten zu gewinnen, verbunden mit einer Zuschreibung von Eigenschaften, die sich „wie Anleitungen zur Durchsetzung der bürgerlichen Weiblichkeits- und Familienideologie“ (Krampe 2013, S. 45) lesen lassen. Da es mit Macht- und Statusgewinnen verbunden war, wurde das durchaus auch von den Betroffenen selbst gefördert: Krankenschwestern waren den Wärtern hierarchisch übergeordnet.
Krankenpflege wurde zum „Medium der sozialen Konstruktion der bürgerlichen Frau und ihrer „weiblichen“ Eigenschaften“ (Wetterer, zit. nach Kampe, 2013, S. 46), im Interesse von Kirche, Krankenhäusern und Medizin, nicht zuletzt zur „Gewinnung kostengünstiger Pflegekräfte“ (ebd., S. 47). Der Zusammenhang zwischen schlechten Arbeitsbedingungen und Betonung des Berufungsaspektes wird von vielen Autor*innen gesehen, Panke-Kochinke spricht in diesem Sinne von „Ideologisierung“ (2000, S. 236). Bis heute, so auch die Meinung von Eva Senghaas-Knobloch, wird Pflege „mit der Aura einer besonderen Berufung und Lebensform“ verknüpft (2008, S. 226).
Die erste Berufsorganisation bildete sich aus dem Zusammenschluss selbstständiger, in privaten Haushalten arbeitenden Krankenschwestern, die „Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands“, die bereits Anfang des letzten Jahrhunderts eine Regelung der Ausbildung und Professionalisierung forderten. Männer wurden durch die beschriebenen Prozesse weiter verdrängt.
Mitte des letzten Jahrhunderts wurde in der DDR die Krankenpflege in das allgemeine Berufsbildungswesen integriert, in der BRD gab und gibt es bis heute in den meisten Bundesländern Krankenpflegeschulen, verbunden mit Schwesternwohnheimen, zu denen Männer keinen Zutritt hatten. In den 1970er Jahren in der BRD gestartete Versuche der Akademisierung scheiterten „am Widerspruch kirchlicher Pflegeorganisationen ebenso wie an dem der Gewerkschaften“ (Krampe, 2013, S. 46), in der DDR war es seit den 1960er Jahren möglich, Krankenpflege als Studium zu absolvieren (2). In beiden Staaten wurden berufsinterne Hierarchisierung und Ausdifferenzierung vorangetrieben. Es gab (und gibt) Ablehnungstendenzen traditionell ausgebildeter Krankenschwestern gegen die Akademisierung. Die geschlechtsspezifische Hierarchisierung war weiter wirksam: Es waren „Männer auch zu diesem Zeitpunkt bereits in bestimmten Weiterbildungskursen wie auch auf höheren Leitungsebenen […] deutlich überrepräsentiert“ (Krampe, 2013, S. 48).
Vor dem Hintergrund des Pflegenotstandes der 1980er Jahre wurde neben einer besseren Bezahlung von einer Minderheit die Akademisierung gefordert (3). Das durchaus auch intern verbreitete Vor- und Fehlurteil lautete, dass „Pflege auf Grund ihrer Nähe zur Hausarbeit, der wenig strukturierten, häufig intuitiv geleiteten Praxis und der Diffusität der Aufgaben nicht professionalisierungsfähig sei“ (Krampe, 2013, S. 50). Einige Autor*innen haben deshalb vorgeschlagen, Pflege zu „Entfeminisieren“ (Krampe und Höhmann, 2004), in der Annahme, dass damit ein anderes, sachlicheres und professionelles Image verbunden wird.
Bis heute entstanden deutschlandweit 40 Pflegestudiengänge, vor allem in den Bereichen Pflegemanagement und -pädagogik (Krampe, 2013, S. 49), und der interne Selbstverständnisdiskurs nahm an Fahrt auf. Das war fraglos ein entscheidender Schritt für Aufwertung und Öffnung des Berufes. Die Werbung anlässlich etwa des Boys-Day zeigt das – sie zeigt allerdings auch, dass da nicht mit Geschlechtsspezifika und Stereotypen Interesse für die Pflege geweckt werden soll, sondern mit der Betonung von Kompetenzen und Karrierechancen.
Die Entwicklung der Profession Pflege liefert den ersten, ihr Gegenstand den zweiten Hinweis, um zu verstehen, warum der Weg weiterhin anders verläuft, als bei anderen Professionen. Pflege hat einen spezifischen Gegenstandsbereich und spezifische, daran angepasste professionelle Handlungstechniken:
„Pflege beschreibt eine interaktive, kommunikative Beziehung zwischen Menschen, bei der sich jemand auf angemessene, respektvolle, zugewandte und achtsame Weise für jemanden einsetzt, die/der einen Fürsorgebedarf hat. Diese Pflege als Fürsorge wird subjektiv erfahren und kann diskursiv beschrieben werden. “ (Nover und Panke-Kochinke, 2021, S. 52). Dieses Fürsorgehandeln manifestiert sich auf der subjektiven Ebene und im gesellschaftlichen Diskurs.
Diesem Gegenstand gerecht zu werden, ist das Ziel. Strukturelle Ungleichheit und Rahmenbedingungen pflegerischen Handelns erschweren die Umsetzung ‚guter Pflege‘.
Den dritten Hinweis liefert die Betrachtung der Situation der Pflegenden in Deutschland. Um beurteilen zu können, ob es strukturell gefestigte Ungleichheiten gibt, möchte ich zunächst einige Zahlen sprechen lassen.
„Die große Mehrheit der Pflegekräfte ist weiblich: etwas mehr als vier von fünf Erwerbstätigen in der Alten- und Krankenpflege sind Frauen. In der Altenpflege liegt ihr Anteil mit 84 Prozent noch etwas höher als in der Krankenpflege (80 Prozent). Gleichwohl ist der Frauenanteil in der Krankenpflege – wenn auch nur geringfügig – stetig sinkend, was bedeutet, dass zunehmend Männer für diese Berufe gewonnen werden können.“ (Arbeitsagentur, 2021, S. 6)
2020 waren in der Krankenpflege 1,11 Mio. Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, in der Altenpflege 601.000. Hier waren 48 Prozent Helfer*innen, davon wiederum hatten zwei Drittel eine Berufsausbildung (1-2 Jahre), der Zuwachs an Arbeitskräften beruht zu über 90 Prozent auf Altenpflegehelfer*innen, das Verhältnis zwischen examinierten Fachkräften und Helfer*innen verändert sich stetig zuungunsten der Examinierten (ebd.).
Bei Krankenpfleger*innen sind 72 Prozent examinierte Fachkräfte, 12 Prozent haben zusätzlich eine Spezialausbildung und 16 Prozent sind Helfer*innen.
Die Einkommensunterschiede liegen auch in der unterschiedlichen Wahl der Spezialisierung begründet; der Männeranteil in überdurchschnittlich vergüteten Spezialisierungen ist besonders hoch. Ob diese Wahl in Abhängigkeit vom erzielbaren Einkommen, vom – vermuteten – Prestige oder von geschlechtsbezogenen Zuschreibungen abhängt, müsste dringend geklärt werden.
Eine aktuelle Untersuchung zu Einkommen in den systemrelevanten Berufen (Öz, 2020) zeigt, dass die durchschnittlichen Verdienste dieser ‚neuen‘ gesellschaftlichen Gruppe unter dem Gesamtdurchschnitt liegen, was durchaus als mangelnde Wertschätzung erlebt wird. So verdienen Altenpflegerinnen in Deutschland im Durchschnitt 2468 Euro, Altenpfleger 2797 Euro, Fachkrankenpfleger Intensivpflege 3784 Euro, ihre Kolleginnen 3126 Euro (Öz, 2020, S. 6).
Unterschiedliche Karrierewege und die berufliche Position haben Einfluss auf die Höhe des Einkommens. In Vorgesetztenposition verdienen Pflegende im Durchschnitt 11 Prozent mehr (Bispink et al., 2013, S. 20) – eine geringe Differenz im Vergleich zu der durch den Ausbildungsabschluss bedingten von 20 Prozent.
Pflegende in leitenden Positionen sind überdurchschnittlich häufig Männer; sie erreichen auch schneller höhere Graduierungen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie für Deutschland: ca. die Hälfte der Führungspositionen in der Pflege im Krankenhaus ist von Männern besetzt, sie stellen aber nur 20 Prozent der Pflegenden (pflege-online.de, 2021).
Im Durchschnitt verdienen Frauen in der Pflege 12 Prozent weniger als Männer. Über alle Berufe liegt die um strukturelle Unterschiede bereinigte Differenz bei nur 6 Prozent (ebd.). Die Differenz von 12 Prozent ist also durchaus als hoch zu werten.
Auch ins Studium gehen proportional zu ihrem Anteil in der Pflege deutlich mehr Männer als Frauen.
Schäfer et al. haben untersucht, ob sich akademische Bildung hinsichtlich des Einkommens unterschiedlich bezahlt macht. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass akademisch gebildete Frauen „sowohl geringere Bruttostundenlöhne als auch geringere Bildungsrenditen erzielen“ (2016, S. 21), dass die Einkommensdifferenzen zwischen Frauen und Männern in der Medizin weniger groß sind, und dass es settingspezifische Unterschiede gibt: „Die heterogene und weiterhin expansive Altenpflege ist durch geringe Einkommensniveaus für beide Geschlechter und besonders hohe Bildungsrenditen der männlichen Fachkräfte gekennzeichnet“ (ebd.).
„Gleichzeitig sind Teilzeitbeschäftigungen und geringfügige Beschäftigungen weit verbreitet. Fast drei Fünftel (58 Prozent) der Erwerbstätigen in diesem Bereich arbeiten in Teilzeit oder sind geringfügig beschäftigt. Dabei arbeiten rund 62 Prozent der Frauen und 37 Prozent der Männer in Teilzeit“ (Arbeitsagentur, 2021, S. 6). Das hat sicher mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Rollenzuweisungen bzw. geschlechtsspezifischer Verteilung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu tun, und begründet ebenfalls Einkommensunterschiede.
Eine ganz andere Manifestation von Ungleichheit möchte ich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Trotz der in ‚Gesundheits- und Krankenpflegerin‘ geänderten Berufsbezeichnung (5) hält sich die Bezeichnung ‚Schwester‘, was mit dem Selbst- und dem Fremdbild zu tun hat.
‚Schwester‘ ist kein eindeutiger, nur in diesem Zusammenhang benutzter Begriff, sondern ebenso konnotiert mit enger verwandtschaftlicher Beziehung oder der Zugehörigkeit zu einer religiösen Ordensgemeinschaft.
Der Blick in die Geschichte hat gezeigt: Eine examinierte Krankenschwester zu sein ist etwas, auf das die Trägerin zu Recht stolz war. Es war ein Titel, den sie sich hart erarbeitet hat, der von Kompetenzen zeugt und Respekt gebietet. Von Seiten der Patientinnen und Patienten schwingen jedoch eher die persönlichen, emotionalen Anklänge mit.
Die Schwester anderer Geschwister zu sein, sucht man sich nicht aus und bleibt es lebenslänglich; unabhängig von der Art der Beziehung ist es keine Berufsarbeit. Auch Ordensschwester ist kein Beruf, allerdings entscheidet man sich dazu sehr bewusst, ist es mit Leib und Seele, es bezieht das gesamte Leben ein. Alle Rollen, die man sonst noch haben mag, vielleicht die der Schwester von Geschwistern, werden davon beeinflusst und dominiert.
Demgegenüber steht der Begriff ‚Pfleger‘ eindeutig für eine Person, die sich in einem erlernten Beruf um spezielle, klar bezeichnete Belange kümmert: um Tiere, um Landschaft, um das Recht, um den Raum – oder eben: um hilfsbedürftige Menschen.
Zwischenfazit: Es finden sich drei Mechanismen, die den in der Pflege Beschäftigten zu schaffen machen, schwierige, zum Teil ungerechte Rahmenbedingungen aufrechterhalten und zu Intersektionalität führen: historisch gewachsene und verfestigte Rollenvorurteile, strukturelle Ungleichheit und eine unzeitgemäße gesellschaftliche Sicht auf Pflege.
Pflege ist systemrelevant, wie alle, die es nicht vorher schon wussten, im Laufe des letzten Jahres lernen durften – mit welchen Konsequenzen?
„Dazu kommt noch die gesundheitsgefährdende Überanstrengung […d.A.] des Berufes selbst […d.A.], Es ist thatsächlich kaum zu glauben, wie wenig für die materielle Lage unserer überanstrengten, sich aufreibenden Krankenpflegerinnen geschieht.[…] Der Staat lohnt andere Ämter nach ihrer Wichtigkeit, nach ihrer Verantwortung und nach dem, wie sie die Kraft aufbrauchen. Es giebt aber kaum einen Beruf, der verantwortlicher, unentbehrlicher und aufreibender ist, als der der Krankenpflege, und kaum einen anderen, der kläglicher entlohnt wird. Ehe diesem schreienden Mißverhältnis nicht ein Ende gemacht wird […], kann man nicht hoffen, dem Mangel an Krankenpflegerinnen abzuhelfen.“ (Mathilde Weber, 1894, zit. nach Panke-Kochinke, 2003, S. 78).
Nach wie vor sehen wir in Kliniken und Langzeitpflegeinrichtungen Arbeit an der Belastbarkeitsgrenze und darüber hinaus, einen gravierenden und steigenden Personalmangel, eine deutliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch arbeitsrechtlich wirksame Verordnungen.
Die oben benannte Koppelung an überholte Normalitätsvorstellungen von Frauen- und Männerrollen ist eine entscheidende Barriere auf dem Weg in die Gleichberechtigung, unabhängig vom Beruf. Damit ist die größte Hürde auf dem Weg in ein geändertes Ansehen, veränderten Habitus der Pflegenden und eine gerechte Bezahlung beider Geschlechter eine, die sozial konstruiert ist und entsprechend nur gesellschaftlich beseitigt werden kann; die pflegetypischen zusätzlichen Hemmnisse und Bremsen sind aber damit nicht vollständig erklärbar und weiterhin anzugehen.
Beides, die geschilderten Schieflagen und Zuschreibungen, bewirken Unzufriedenheit und Abwanderungstendenzen (Kühn et al., 2021). Schon 1999 hat Karin Kersting von „Coolout“ in der Pflege gesprochen. Im Gegensatz zum Burnout ist damit ein Schutzmechanismus aufgrund der alltäglichen Erfahrung gemeint, dass die „unauflösbaren Widersprüche“ (Kersting, 1999, S. 53) zwischen dem eigenen Arbeitsethos Pflegender und dem, was aufgrund der von ökonomischen Prinzipien geleiteten Arbeitsbedingungen machbar ist, zum „sich kalt machen“ (ebd.) führen.
Was tun mit all diesen Erkenntnissen?
„Pflege ist Wissenschaft und Kunst. Pflege erfüllt ein grundlegendes Bedürfnis jeder Gesellschaft. Pflege ist ein Heilberuf und eine Profession“ (DBfK, 2020).
Aber Aspekte von Gender sind in der Pflege – wie überall sonst auch – allgegenwärtig. Sie wirken zwischen den Geschlechtern und führen zu Ungleichheiten bzw. verstärken sie, „glass escalator“ (Punchon et al., 2019) ist da ein Stichwort. Sie wirken durch die Zuschreibung von Pflege als Frauenberuf, mit der Implikation, dass mit dem biologischen Geschlecht auch soziale Kompetenzen und Fähigkeiten verbunden seien. Aber Patientenorientierung und Patientenzentrierung sind keine Frage weiblicher Nächstenliebe, sondern eine des professionellen Arbeitens. Sie wirken mit allen Folgen, die das traditionell für Bezahlung, Status und Macht (-befugnisse) mit sich bringt.
Es kann nicht gelingen, strukturelle Hemmnisse individuell zu beseitigen. Aber: „Aus den Schwesternkreisen selbst müssen doch schließlich die Anregungen zu allen Fortschritten hervorgehen; die Schwesternkreise haben zu beobachten und die Tatsachen zu sammeln, auf Grund denen Pläne überhaupt erst entworfen werden können; sie müssen mit selbstständigem Interesse jede Stufe ihrer Entwicklung begleiten“ (Deutsche Krankenpflege-Zeitung von 1905, zit. nach Panke-Kochinke 2003, S. 142). Mit diesem Zitat will ich auf einen weiteren Aspekt hinweisen: es geht weder ohne gesellschaftliche, noch ohne professionsinterne Anstrengungen und Einsicht in Veränderungsnotwendigkeiten.
Aber wie? Hilfreich kann das Analysekonzept „Genderregime“ (Backes et al. 2008, S. 28) sein, in dem unterschieden wird zwischen
Da diese Elemente miteinander in Wechselwirkung stehen, wird es möglich, Wandel, Reproduktion und Einfluss struktureller Unterschiede des gender zu rekonstruieren.
Vor allem auf die erste bis dritte Komponente können die Berufsverbände Einfluss nehmen, die scientific community kann über ‚theming‘ und ‚framing‘ (Nover, 2009) die öffentlichen Arenen mit ihren Diskursen beeinflussen, Ausbildung und Praxis haben es in der Hand, mit veränderter sozialer Praxis die vierte Komponente zu verändern. Die Bedeutung politischer Prozesse ist bereits deutlich geworden, hinzuzufügen ist hier noch die überfällige Anpassung der Vorbehaltsaufgaben.
Wie im historischen Abriss gezeigt, hat die Pflege besonders stark unter der Zuschreibung von scheinbar geschlechtstypischen Tätigkeiten zu leiden. Ohne Dekonstruktion dieser Zweiteilung wie auch der Zuordnung nahezu aller Tätigkeiten zum einen oder anderen Geschlecht wird diese Ungleichheit kaum zu beseitigen sein, wenn damit verbundene Über- und Unterordnungsmechanismen nicht weiter reproduziert werden sollen, worauf bereits Judith Butler (1990) Ende des letzten Jahrhunderts aufmerksam gemacht hat.
Daher kann eine Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe auch für Männer nicht das Ziel sein. Es kommen bereits, wie gezeigt, verstärkt Männer vor allem in die Gesundheits- und Krankenpflege (s.o.), wo sie sich verstärkt in Bereichen mit höherem Prestige und höherer Bezahlung wiederfinden. Gleiches gilt für die Akademisierung, die offenbar, wie zuvor bei den Fortbildungen, überproportional häufig von Männern genutzt wird.
Fraglos ist die Akademisierung, um die immer komplexer werdende Versorgung sicher zu stellen, eine deutliche Korrektur der Bezahlung, die Verbesserung von Prestige und Status unabdingbar, um Pflege einen angemessenen und gerechteren Platz in der Gesellschaft zu geben. Die aktuell laufenden Prozesse dürfen aber nicht dazu führen, innerhalb der Profession Pflege alte und ungerechte Strukturen und Geschlechterhierarchien zu reproduzieren, sondern müssen dazu dienen, den Beruf attraktiver und die Bedingungen gerechter für alle zu gestalten.
Es gibt drei Diskursstränge in der Debatte um die Akademisierung, die sich auf drei Aspekte der Entfaltung und Verfestigung einer Profession drehen:
Es scheint mir dringend erforderlich, dazu geeignete Vorschläge zu entwickeln bzw. umzusetzen, und zwar auf allen Ebenen und in allen Bereichen, die zur Pflege gehören:
Vielleicht trägt auf mittlere Sicht auch das vor langem begonnene, sich allmählich aber auf breiterer Basis durchsetzende Infragestellen der Geschlechterdualität dazu bei, dass sich die Zuordnung von Kompetenzen zu einem biologischen Geschlecht nicht aufrechterhalten lässt. Charakterliche oder soziale Eigenschaften mit dem biologischen Geschlecht zu verknüpfen, ist schon seit Judith Butler keine gute Idee mehr. Eine typische soziale Identität zuzuordnen sollte der Vergangenheit angehören; sie hat jedenfalls in der Professionalität des Pflegeberufes nichts zu suchen.
Pflege muss nicht „männlicher“ oder weniger „weiblich“ werden, sondern offensiver das eigene Professionsverständnis nach außen tragen.
Backes, G. M., Amrhein, L. & Wolfinger, M. (2008). Gender in der Pflege – Herausforderungen für die Politik, Expertise im Auftrag der der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. WISO Diskurs. Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bonn
Butler, J. (1990). Das Unbehagen der Geschlechter. Berlin: edition suhrkamp
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Kersting, K. (1999). Coolout in der Pflege. PfleGe, 4.Jg. (3), 53-60
Krampe, E.-M. (2013). Krankenpflege im Professionalisierungsprozess. Entfeminisierung durch Akademisierung? In: die hochschule. journal für wissenschaft und bildung, 1/13, S.43-56
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Krampe, E.-M., & Höhmann, U. (2004). Wissenschaft zur Entfeminisierung des Frauenberufs Pflege. Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, 2+3, (22), 94-111
Nover, S.U. (2009). Protest und Engagement. Wiesbaden: Springer
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Öz, Fikret (2020): Löhne und Gehälter in systemrelevanten Berufen: Gebraucht und geschätzt, aber unter Wert! Eine Analyse auf Basis der WSI-LohnSpiegel-Datenbank, IAT Discussion Paper, No. 20/02, Institut Arbeit und Technik (IAT), Gelsenkirchen
Sabine Ursula Nover
JProf. Dr, Lehrstuhl „Methodologie und Qualitative Methoden in der Pflege- und Gesundheitsforschung“, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar. Forschungsschwerpunkte: Rekonstruktive Auswertungsverfahren, visuelle Forschungsmethoden, methodische Zugänge zu vulnerablen Personen, Intersektionalität
snover@pthv.de
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