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Verena Poestgens
Pflege und Achtsamkeit - Ein Widerspruch?

Wie oft denken Sie an die Arbeit, an die noch nicht erledigten Aufgaben, an die «To-Do- Liste»? Wie sehr belastet Sie das Gefühl, den eigenen Ansprüchen im Arbeitsalltag nicht gerecht zu werden? Der Praxisalltag von Pflegefachpersonen ist anspruchsvoll und sehr häufig diversen Stressfaktoren ausgesetzt. Die Rahmenbedingungen orientieren sich zunehmend an neoliberalen Strukturen, die in Konkurrenz zur Beziehungsgestaltung und zur Arbeitsqualität in der Pflege stehen. Insbesondere Menschen, die den Beruf ergreifen wollen, sind den Anforderungen und den Belastungen besonders ausgesetzt. Welche Möglichkeiten gibt es, Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit für Pflegefachpersonen in der Ausbildung einzusetzen?

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Stress und Pflege = Systemrelevanz – ein Widerspruch?

In Anlehnung an Erma Bombecks «Muttertagsgedicht» (1983), wurde 1991 die «Legende von der Erschaffung der Krankenschwester» publiziert. Dieser Text handelt von einem Dialog zwischen Gott und einem Engel sowie den schier unfassbar hohen Erwartungen und Ansprüchen an den Beruf einer Pflegefachperson. Hier ein kurzer Auszug: «Sie (die Krankenschwester) soll Nerven wie Drahtseile haben…einen Rücken, auf dem sich alles abladen lässt, dabei soll sie aber flexibel sein, so dass sie sich in viel zu kleinen Dienstzimmern wohlfühlen kann…sie muss fünf Dinge gleichzeitig tun und soll dabei immer eine Hand frei haben… sie weiss, dass zehn Doppelzimmer 40 Patienten bedeuten kann, aber zehn Stellen oft nur fünf Schwestern sind».

Auch wenn dieser Text 30 Jahre später nicht der gendergerechten Sprache entspricht, ist er leider inhaltlich immer noch hochaktuell.

Multitasking scheint eine Voraussetzung für den Pflegeberuf zu sein. Mal eben, wegen Krankheitsausfall, den Dienstplan neu koordinieren; die Angehörige, die bereits viermal angerufen hat, beruhigen; den ärztlichen Dienst erinnern, nun endlich die Verordnungen anzupassen; der Patientin gleich noch das Essen reichen; der neuen Kollegin mitteilen, wo der Eintrag zu dokumentieren ist; den Patienten unbedingt noch über den weiteren Verlauf informieren… Dies ist nur ein kurzer Ausschnitt, was Pflegefachpersonen tagtäglich leisten. Das Gefühl, überall sein zu müssen und trotzdem immer zu spät zu sein, egal, wie groß die Anstrengung, wie hoch das Tempo ist, ermüdet irgendwann.

Wie anspruchsvoll der Pflegeberuf ist, wird leider nach wie vor unterschätzt. Neben den organisatorischen Rahmenbedingungen, dem ökonomischen Druck und den sehr begrenzten personellen Ressourcen, bedarf es einer hohen fachlichen Kompetenz und persönlichen Präsenz (Fuchs-Frohnhofen et al., 2017). Insbesondere die ökonomischen Rahmenbedingungen verstärken den hohen Mental- und Workload von Pflegefachpersonen.

Die neue Auszeichnung der «Systemrelevanz» hat einen schalen Beigeschmack, wenn die Bedingungen im Gesundheitswesen nicht auch systemkritisch reflektiert werden. Der ständige Personalmangel ist bereits eine chronische Herausforderung oder vielmehr die Folge einer Misswirtschaft, die nicht die Care Arbeit als solches wertschätzt und erkennt, sondern nur den Kosten-Nutzen-Faktor priorisiert. Gemäß dem nationalen Versorgungsbericht für Gesundheitsberufe/Schweiz, fehlen voraussichtlich bis 2030 ca. 65.000 Personen in der Pflege (Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektor:innen und OdASanté, 2016). Im Frühling 2020 berichtete die WHO, dass sich der weltweite Mangel an Pflegefachpersonen an ca. sechs Millionen Pflegefachpersonen zeigt. Diese Schätzung wurde von Expert:innen des internationalen Verbandes für Pflegekräfte (ICN) nach oben korrigiert. Aufgrund der zu erwartenden Pensionierung von Pflegepersonal im Jahr 2030, werden 4,7 Millionen Stellen unbesetzt sein (ICN, 2020). Im November 2021 wurde in der Schweiz die «Pflegeinitiative» angenommen. Die Ziele der Pflegeinitiative fokussieren eine Verbesserung der Arbeits- und Ausbildungsbedingungen von Pflegefachpersonen in Alterszentren, Spitälern sowie der Spitex. Aktuell verlassen über 40% der Pflegefachpersonen den Beruf vorzeitig aufgrund der hohen Belastung im Beruf (SBK, 2021).

Marktlogik und Care?

Wenn der Begriff «Wirtschaft» genannt wird, ist der Bezug zu Banken, Hedgefonds, Börse, Immobilien und Multikonzernen vermutlich näher als zur sogenannten Sorgearbeit.

Seit den 1980/90er Jahren wurden neoliberale Strukturen immer massiver auf das Gesundheitswesen ausgeweitet. Ökonomische Ziele wie Deregulierung, Effizienz sowie Profitstreben bestimmen den Alltag von Pflegefachpersonen mehr denn je (Dawson et al., 2019).  Diese Kommerzialisierung und Ausdehnung von marktwirtschaftlichen Prinzipien auf soziale Güter versuchen, sämtliche Tätigkeiten durch einen Geldwert abzubilden und zu vergleichen bzw. sie monetär auf- oder abzuwerten (Sandel, 2015, S. 22). Gesundheitsinstitutionen wurden dadurch in kalkulierbare Räume verwandelt, mit dem Ziel, Leistungen berechenbar darzustellen (Foth, Lange & Smith, 2018).  Dieser «Kulturwandel» hat Folgen, die in der COVID-19-Pandemie sehr deutlich wurden. Weltweit wurde die Anzahl der Intensivbetten seit den 1980er Jahren massiv reduziert, was zu deutlichen Engpässen in der Behandlung von beatmungspflichtigen Patient:innen führte (Lambert & Rimbert, 2020).

Im Sinne der Marktlogik ist es fraglich, ob eine teure Infrastruktur immer und jederzeit bewirtschaftet werden muss, wenn es nur «Ausnahmen» bzw. einen geringen Teil der Population betrifft. Es sei denn, es herrscht eine Pandemie oder eine generelle Zunahme an chronisch erkrankten Menschen. Vergleichbar wäre dies mit der Überlegung, ob die Feuerwehr auch immer auf Abruf sein muss, obwohl es gar nicht dauernd brennt (Lambert & Rimbert, 2020). Hier zeigt sich bereits die Diskrepanz zwischen neoliberalen Strukturen und dem Auftrag im Gesundheitswesen. Ein Produkt kann in vielfältiger Weise reproduziert und möglichst bei gleicher Qualität verkauft werden. Menschen in Krisensituationen zu begleiten, zu pflegen, zu unterstützen entspricht aber sehr oft nicht einer linearen Abfolge und ist vor allem nicht immer kalkulierbar.

Das Universitätsspital Zürich veröffentlichte im Mai 2020 eine Studie zur psychischen Gesundheit von Gesundheitsfachpersonal, während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie. Von den befragten 555 Pflegefachpersonen berichteten 29% über klinisch relevante Symptome einer Angsterkrankung und 25% zeigten klinische Symptome einer Depression (Spiller & Weilenmann, 2020). Die Arbeitsbedingungen sowie die daraus resultierenden physischen und psychischen Belastungen gelten grundsätzlich im Pflegeberuf als besonders herausfordernd (Schmucker, 2019).  Spiller & Weilenmann (2020) verweisen zudem darauf, dass eine fehlende soziale Unterstützung durch den Arbeitsort Depressionen, Angststörungen und Burnout-Symptomatiken bei Pflegefachpersonen erhöht (Spiller & Weilenmann, 2020, zit. n. Stocker et al. 2020, S.17).

Die Vereinten Nationen deklarierten 1999 folgendes: «Das Wesentliche an der Sorge für andere sind die menschlichen Bindungen, die damit aufgebaut und gepflegt werden.

Die Sorgearbeit, auch Reproduktionsarbeit genannt, ist zudem unerlässlich für eine nachhaltige Wirtschaft» (United Nations Development Programme 1999 in EBG, 2010). Die Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, wie zentral die Care Arbeit für uns alle ist. Dadurch wurde auch sichtbar, wie selbstverständlich, unterbezahlt, prekär und letztlich unsichtbar die Sorgearbeit ist.

Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx definierten den ökonomischen Wert der Arbeit folgendermaßen: «Je mehr Arbeitszeit für die Herstellung einer Ware erforderlich ist, desto höher ist ihr Wert». Jedoch hat Erwerbstätigkeit nicht nur ausschließlich ökonomische Aspekte, sondern auch eine wichtige soziale und persönliche Bedeutung. Die eigene Rolle und das Selbstwertgefühl werden nicht zuletzt häufig über den Beruf definiert. Hinsichtlich des gesellschaftlichen Wertes der Arbeit gibt es noch wenige Theorien. Für David Graeber bestand den gesellschaftliche Gewinn der Arbeit darin, ob jemand leidet, wenn die Arbeit nicht vollzogen werden kann (Prainsack, 2020, S. 107-108). Die Sorgearbeit kann und darf somit nicht Privatsache sein und sie betrifft Bedürfnisse, die uns alle betreffen oder irgendwann betreffen können.

Das Motto «Zeit ist Geld» hat längst die Care Arbeit erreicht. Zeit ist ein wesentlicher Faktor in der Pflegearbeit. Zeit für die Beziehungsgestaltung, für das Krisenmanagement, für die Beratung, die Pflege und die Organisation eines menschlichen bedürfnisorientierten Lebens. Jedoch auch Zeit für die eigene Psychohygiene, die Selbstreflexion, die Analyse und die Empathie mit sich und mit anderen Menschen.

Motivation und Selbstfürsorge?

Ein Motiv, den Pflegeberuf zu ergreifen, resultiert häufig aus dem Bedürfnis, anderen Menschen in Krisensituationen zu helfen, für andere da zu sein, Unterstützung anzubieten, Beziehungen zu gestalten. Aber genau diese Qualitäten werden durch neoliberale Kriterien, die das Wachstum und die Profitorientierung des Unternehmens stärker gewichten, als den Menschen, korrumpiert.  Eine nicht unwesentliche Folge davon ist das Phänomen «Compassion Fatigue» («Mitleidsmüdigkeit»). Dieser Zustand ist eine emotionale, physische Erschöpfung sowie die Unfähigkeit, emotionalen Stress zu kompensieren. Der Beziehungsaufbau zu Patient:innen leidet darunter. Zudem können Pflegefachpersonen den Sinn ihrer Arbeit nicht mehr erkennen (Siegenthaler & Tschuor, 2018, S. 7).

Die Emotionsarbeit stellt gerade für Berufsanfänger:innen eine besondere Herausforderung dar. Der Wunsch, Menschen Zeit, Wertschätzung, Empathie und Aufmerksamkeit zu schenken, dabei gleichzeitig schnell, effizient und gewissenhaft ein hohes Arbeitspensum zu erledigen, ist ein ständiger Wettlauf. Oft entsteht aus diesem Widerspruch die unbewusste/bewusste Haltung, in der Patient*inneninteraktion eigene Emotionen abzuspalten und stattdessen einen neutralen «professionellen» Ausdruck zu zeigen, um die Arbeit bewältigen zu können. Die ständige Konfrontation mit Verlust, Schmerz und Angst und gleichzeitiger Abspaltung der eigenen Emotionen geht somit mit einer verstärkten Erschöpfung und erhöhtem Stressempfinden einher (Schöllgen & Schulz, 2016). Dabei wird die Patient*innenorientierung als zentraler Anteil des professionellen Selbstverständnisses der Berufsgruppe Pflege immer wieder betont (Caissier-Woidasky, 2007, S. 393, zit. n. Flaiz, 2018, S. 78).

Viele Studien belegen, dass Absolvent:innen der Pflegeausbildung nicht ausreichend gerüstet sind, um die komplexen Arbeitsanforderungen zu bewältigen, und dass dies die Entstehung von menschlichen Fehlern verstärkt (Institute of Medicine, 1999, zit. n. Burger & Lockhart, 2017). Pflegefachpersonen in der Ausbildung zeigen demnach früh Versagensängste bezüglich der Erwartungen und der geforderten Leistungen (Stinson et al., 2020). In einem gesellschaftlichen Klima des gesteigerten Wettbewerbs, in dem der Wert der Arbeit und somit auch die Identität der Person mit dem Beruf monetär auf- oder abgewertet wird, sind die eigenen Leistungsansprüche oftmals auch sehr hoch. Die persönlichen Erwartungen nach Perfektion, Schnelligkeit und einem reibungslosen Ablauf gepaart mit dem Anspruch, es allen recht machen zu wollen, entspricht einer ewigen Sisyphusarbeit, oder, wie zu Beginn in Erma Bombecks Text «Erschaffung einer Legende…» übersteigt es sogar «göttliche Möglichkeiten». Hinzu kommt, dass der Pflegeberuf nach wie vor einen sehr hohen Frauenanteil hat. Inwiefern stereotype geschlechterspezifische Erwartungen die professionelle Identität beeinflussen, wird seit Ende der 1960er Jahre sozialwissenschaftlich untersucht (Flaiz, 2018, S.65).

Die Autor:innen Kristin Neff und Christopher Germer  beschreiben im Vorwort ihres Buches «Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten» (2021) sehr transparent, wie belastend das Gefühl sein kann, nicht auszureichen und trotzdem den Anspruch zu haben, unbedingt härter und strenger zu arbeiten, in der Hoffnung, doch irgendwann zu genügen. Kristin Neff ertappte sich bei dem Gedanken, dass Selbstmitgefühl egoistisch sei (Germer & Neff, 2020, S.10). Jedoch wurde ihr in der Auseinandersetzung mit dem Thema deutlich, dass Selbstliebe die Voraussetzung ist, um mit anderen Menschen in Beziehung treten zu können. Eine permanente kritische Bewertung, die innere Verurteilung der eigenen Person, schneller, besser und klüger sein zu müssen und dabei gleichzeitig im Umgang mit anderen Menschen liebevoll und achtsam in Kontakt zu treten, führt gemäß ihrer Beobachtung nicht zum Gefühl von Resonanz, sondern verstärkt das Gefühl der Isolation (Germer & Neff, 2020, S.11).

Die Praxis der Achtsamkeit hat in den vergangenen Jahren immer mehr an Popularität gewonnen und dient vielen Menschen in der Zwischenzeit auch als Burnoutprävention. Das Konzept wurde von Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli 1979 in den USA, zur komplementären Unterstützung zur Schulmedizin für Schmerz- und Krebspatient:innen, entwickelt. Die Umsetzung der Achtsamkeit soll die Wahrnehmungen der Belastungen reduzieren und die Lebensqualität zu erhöhen (MBSR-Verband Schweiz, 2021).

Sheridan (2020) definiert Achtsamkeit als Fähigkeit, ganz präsent, wach und aufmerksam in der Gegenwart zu sein (Sheridan, 2020, S. 26). Die Interventionen beziehen sich auf Meditationen, Atem- und Körperübungen und Reflexionen zur Wahrnehmung. Achtsamkeit unterstützt die Konzentration und hilft, die eigenen Emotionen zu regulieren, Situationen und anstehende Aufgaben klarer zu erkennen und somit Handlungen besser zu fokussieren (Sheridan, 2020, S. 26-30). Personen in Heil- und Pflegeberufen empfinden nachweislich weniger Stress und berichten über ein verbessertes Selbstmitgefühl (Sheridan, 2020, S. 30). Das Gefühl, sich selbst anzunehmen, mit sich selbst befreundet zu sein, unterstützt auch die Selbstwirksamkeit. Selbstwirksamkeitserwartung bedeutet die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenz bewältigen zu können (Jerusalem & Schwarzer, 2002, S. 35).

Die Aspekte Selbstwirksamkeit und Achtsamkeit zur beruflichen Stressreduktion werden in der Ausbildung zur Pflegefachperson zwar oft kommuniziert, jedoch bisher kaum gezielt in der Theorie und Praxis angeboten oder praktiziert.

Die folgenden drei Studien entstammen einer Analyse von insgesamt neun quantitativen Studien meiner Bachelorarbeit, mit der Fragestellung: Wie lassen sich achtsamkeitsbasierte Interventionen bei Pflegefachpersonen in der Ausbildung zur Stressreduktion und Selbstwirksamkeit einsetzen?

Achtsame Pflege?

Die Autor:innen Sanko et al. (2016) untersuchten an einer Krankenpflegeschule in Miami die Hypothese, ob ein Achtsamkeitstraining bei Pflegefachpersonen in der Ausbildung einen positiven Einfluss auf die ethische Entscheidungsfindung hat. Insbesondere in klinisch anspruchsvollen Situationen beeinflussen diverse Stressfaktoren, wie ein technologisches, komplexes Umfeld, die ethische Entscheidungsfindung, negativ. Zur Reduktion der Stresswahrnehmung erfolgten wöchentliche Achtsamkeitssitzungen (8 Wochen) in einem Zeitfenster von 20-60 Minuten. Die Sitzungen bestanden aus einer Kombination aus Schulung und Achtsamkeitsmeditation. Zudem wurden die Sitzungen im Audio- und Videoformat aufgezeichnet und ermöglichten auf der Lernplattform online jederzeit Zugang für die Proband:innen. Neben diversen Assessmentinstrumenten zur Erfassung von Stressfaktoren und Achtsamkeit, wurden die Proband:innen aufgefordert, regelmäßig Tagebuch zu führen, um ihr subjektives Erleben zu beschreiben. Die Studienteilnehmer:innen berichten in der Evaluation, dass die Intervention hilfreich war; 41% bestätigten einen starken Effekt; 45% quittierten einen guten Effekt und 7% berichteten von einem mäßigen Einfluss auf ihre Lebensqualität. Die positive Wirkung der achtsamkeitsbasierten Interventionen auf das subjektive Stresslevel, die Schlafqualität, die Konzentration und die allgemeine Aufmerksamkeit wurde übereinstimmend bestätigt. Als besonders praxisnahe und wirksame Achtsamkeitsübung wurde das achtsame Händewaschen von den Teilnehmer:innen beschrieben, da in dieser alltäglichen Umsetzung alle Sinne bewusst miteinbezogen werden: «Das Gefühl des warmen Wassers, der Duft von Seife sowie das Geräusch der rhythmischen Bewegung zwischen den Händen bedingt eine besondere Aufmerksamkeit der Gegenwart» (Sanko et al., 2016).

Alsaraireh & Aloush (2017) untersuchten an der Universität al-Bayt in Mafraq Jordanien, ob sich durch den Einsatz von Achtsamkeit bei Pflegefachpersonen in der Ausbildung eine mögliche Reduktion von depressiven Symptomen im Vergleich zu einer Sportgruppe zeigen lässt. Die Bewegungsgruppe absolvierte über zehn Wochen dreimal wöchentlich je 60 Minuten diverse Aerobic-Einheiten. Die Achtsamkeitsgruppe absolvierte im gleichen Zeitraum und im Intervall von 60 Minuten eine Achtsamkeitsübung, die auf der Theorie von Jon Kabat Zinn (MBSR) basierte. In der Evaluation zeigten die Teilnehmer:innen der Achtsamkeitsgruppe  eine signifikante Reduktion der Depressionswerte im Vergleich zu den Proband:innen der Bewegungsgruppe.

Stinson et al. (2020) stellten an einer Krankenpflegeschule in Texas fest, dass insbesondere Pflegefachpersonen in der Ausbildung unter Ängsten, nicht zu genügen, leiden. Dies wirkt sich nachteilig auf die Konzentration, Gedächtnisleistung sowie den gesamten Lernprozess aus. Mit dem Einsatz von Achtsamkeit wurde erwartet, dass sich die Ängste reduzieren und sich eine nachhaltige Mediationspraxis bei den Teilnehmer:innen zeigen würde. Die Interventionsgruppe erhielt über 8 Wochen lang jeweils eine 60-minütige Achtsamkeitssitzung. Die Autor:innen entwickelten ein spezifisches Assessment für die Berufsgruppe Pflege, um Belastungsfaktoren gezielt zu erfassen. Mehr als 80% der Teilnehmer:innen äußerten in der Auswertung, dass die Meditationssitzungen einen positiven Einfluss auf ihre Ausbildung hatten, indem die Ängste, Befürchtungen und Sorgen durch die Achtsamkeitspraxis reduziert wurden und gleichzeitig die Konzentrationsfähigkeit erhöht wurde.

Das Fachmagazin «Pflege Professionell» publizierte 2020 einen Fachartikel zu einem achtsamkeitsbasierten Projekt in einer Krankenpflegeschule in Wien. Es wurde ein Affektresonanztraining (ART) für Pflegefachpersonen in der Ausbildung, mit dem Schwerpunkt Psychiatriepflege, entwickelt. Die Projektgruppe, die alle einen beruflichen Hintergrund aus den Bereichen Psychiatriepflege, Lehrtätigkeit und Psychotherapie aufweisen, haben beobachtet, dass die Student:innen Schwierigkeiten zeigen, Emotionen zu verbalisieren und nur selten Fachsprache verwendet wird. Das Konzept ART (Affektresonanztraining) umfasste 6 Semester begleitend zur Ausbildung. Die ersten beiden Semester fokussierten die Selbstempathie, die auf dem Modell der gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg (GFK) basieren und somit die Spiegelung der eigenen Bedürfnisse sowie die Emotionen in diversen Praxissituationen, miteinbezogen. Die weiteren beiden Semester konzentrieren sich inhaltlich auf die Fremdreflexion. Es wurden Theorien zur Patientenbeobachtung, wie beispielsweise die «Theory of Mind», verwendet. Im dritten Ausbildungsjahr wurden Fallbesprechungen umgesetzt, um die eigenen und fremden Anteile in einer Beziehung zu Patient:innen zu reflektieren und die Selbstwirksamkeit von Pflegefachpersonen in der Ausbildung zu stärken (Zemann, 2020). Die Achtsamkeit wurde dabei gezielt als Basis zur Selbst- und Fremdreflexion in den verschiedenen Schulungsbereichen eingesetzt, mit der Absicht, die innere Haltung positiv zu beeinflussen und die Arbeitszufriedenheit zu unterstützen (Zöchling, 2020). In der Evaluation des Projektes wurde sichtbar, dass die Student:innen sich positiver auf Beziehungen einlassen konnten. Des Weiteren berichteten die Teilnehmer:innen, dass sie sich differenzierter wahrnehmen und  auch verbal besser ausdrücken können, wodurch die Tendenz zu unkontrolliertem Handeln reduziert wurde (Zemann, 2020).

Fazit

Achtsamkeit ist sicherlich nicht die Lösung, um die neoliberalen Strukturen im Gesundheitswesen, die zunehmende Privatisierung der Spitäler oder die strukturelle Diskriminierung von Frauen* im Pflegeberuf, zu kompensieren. Es braucht einen kulturellen Wandel. Die Erfahrungen aus der Pandemie müssen jetzt genutzt werden, um die Sorgearbeit gesellschaftlich zu etablieren, in der Bildung und vor allem in der Marktlogik einer «Care Ökonomie». In Erma Bombecks Text leiten sich die unermesslichen Fähigkeiten einer Pflegefachperson von Gott her und die Pflegende* wirkt eher passiv als aktiv.

Die wirtschaftlichen Bedingungen im Gesundheitswesen werden leider auch oft als «gottgegeben» hingenommen. Wenn sich der Pflegeberuf selbstwirksam politisch vertreten will, ist eine aktive Beteiligung bei politischen Entscheidungen, zentral. Die Annahme der Pflegeinitiative im November 2021 ist ein Hoffnungsschimmer (SBK, 2021).  Jedoch ist das neoliberale Denken und die Orientierung an Abrechnungssystemen oft bereits selbstverständlich, unkritisch übernommen worden. Ein Gegenkonzept, das die Care Arbeit, die Beziehungsarbeit und Komplexität von zwischenmenschlichen Prozessen nicht in monetäre Zeitkorridore einteilt, wäre wünschens- und erstrebenswert.  Denn Achtsamkeit beinhaltet nicht nur Meditation, sondern wie in den vorgestellten Studien auch eine gezielte Schulung einer bewussten Beziehungs- und Begegnungskultur. Eine klient*innenzentrierte Haltung wird von der eigenen Sozialisation und Ausbildung geprägt. Wenn unterstützende und positive Erfahrungen im Kontakt mit anderen in der Ausbildung erlebt werden und auch die Zeit zur Reflexion besteht, entwickelt sich professionelle Identität (Cassier-Woidasky, 2007, S. 393, zit. n. Flaiz, 2018, S. 78). Daher wäre es relevant, Achtsamkeit auch als psychologische Reflexion mit einer gezielten Kommunikationsschulung in der Ausbildung zu implementieren. Der weitere Einsatz von Achtsamkeit in Form von Fallbesprechungen, Supervisionen sowie kollegialer Beratung wäre ebenfalls eine unterstützende Möglichkeit, Pflegefachpersonen in ihrer Selbstwirksamkeit und ihrer Professionalität persönlich und berufspolitisch zu stärken. Das Produkt der pflegerischen Betreuung lässt ich nicht von den Personen, die es produzieren, und denen, die es erhalten, trennen. Diese Kernkompetenz der Beziehungsgestaltung darf nicht an branchenfremde Bereiche abgegeben werden. Letztlich bieten Krisen auch immer die Chance für neue Wege und eine achtsame Beziehungspflege ist für uns alle wichtiger denn je.

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Literatur

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Verena Poestgens, Bachelor Science of Nursing, Berufsschullehrerin HF, Psychiatriepflegefachfrau HF, Entspannungspädagogin, Altenpflegerin/D.

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